Dunning-Kruger und das Licht am Endes des Tunnels
Zuletzt aktualisiert am 12. Februar 2021 von Claus Nehring
Ich möchte Ihnen in diesem Artikel noch einmal vor Augen halten, was bisher passiert ist und was aller Voraussicht nach in den nächsten Monaten noch auf uns zukommen wird. Und Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir trotz der hochgepushten Hiobs-Botschaften der letzten Wochen (3. Welle, Mutationen, Impfstoff-Knappheit usw.) eigentlich auf einem guten Weg sind und dem „Licht am Ende des Tunnels“ immer näher kommen. Denn das beste Mittel gegen die Zukunfts-Angst ist immer noch das Wissen um die Mechanismen, die uns gerade beherrschen.
Außerdem möchte ich Ihnen erklären, was der Dunning-Kruger-Effekt ist, wie er in der Pandemie zur Verunsicherung beiträgt und warum Sie von echten Fachleuten bessere Voraussagen bekommen als von den selbsternannten Virologen, Epidemiologen und Verschwörungs-Mystikern, die sich momentan so zahlreich in den sozialen Medien tummeln.
Ich möchte mich zunächst einmal mit dem Dunning-Kruger-Effekt und seinen Auswirkungen beschäftigen. Danach gehe ich dann im zweiten Teil zur Betrachtung der Realitäten über, die uns jetzt beschäftigen sollten und die unsere nächsten Monate prägen werden.
Der Dunning-Kruger-Effekt
Im Jahre 1995 ereignete sich in Pittsburgh ein einigermaßen kurioser Banküberfall. Damals raubte ein unmaskierter Mann am helllichten Tag trotz sichtbarer Videokameras zwei Banken aus. Er wurde dank der Videoaufnahmen natürlich nur wenig später von der Polizei gefunden und festgenommen. So weit, so gut. Und jetzt kommt der kuriose Teil. Denn besagter Bankräuber begriff nicht, wie die Polizei ihn überhaupt gefunden hatte. Schließlich hatte er sein Gesicht vor dem Überfall sorgfältig mit Zitronensaft eingerieben, um sich für die Kameras unkenntlich zu machen.
Zwei amerikanische Sozial-Psychologen namens David Dunning und Justin Kruger benutzten diesen Fall als Parade-Beispiel für einen Effekt, der dann später als Dunning-Kruger-Effekt in die Populär-Wissenschaft eingehen sollte. Demnach überschätzen inkompetente Menschen ihre eigenen Fähigkeiten auffällig oft und unterschätzen gleichzeitig die Leistungen kompetenterer Menschen. Aber, und das ist das Dilemma, es ist ihnen noch nicht einmal bewusst. Oder, kürzer ausgedrückt, dumme Menschen strotzen vor Selbstbewusstsein, während intelligentere Menschen immer Zweifel haben.
Normalerweise sind die meisten von uns mithilfe des erworbenen Schul-Wissens imstande, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Aber wir leben im Moment gerade nicht in normalen Zeiten, sondern mitten in einer weltweiten Pandemie. Und nur sehr wenige von uns sind Virologen, Epidemiologen, Mathematiker oder Impfstoffexperten und wissen tatsächlich etwas über die Abläufe einer solchen Pandemie. Deswegen hat der Dunning-Kruger-Effekt gerade Hochkonjunktur, denn derzeit reicht unser Schul-Wissen nicht aus, um die Lüge von der Wahrheit unterscheiden zu können.
Die Auswirkungen des Dunning-Kruger-Effekts
In normalen Zeiten stellt der Dunning-Kruger-Effekt kein allzu großes Problem dar (außer vielleicht für die betroffene Person selbst), weil die meisten Menschen den von den Märchen-Erzählern verzapften Unsinn gar nicht erst glauben. Das liegt daran, dass sich in normalen Zeiten der größte Teil dieser Märchen schon mit einfachem Schul-Wissen widerlegen lässt. So glauben zwar einige Menschen daran, dass die Erde eine Scheibe ist, aber die weit überwiegende Mehrheit der Menschen würde so etwas recht schnell als Unsinn erkennen.
Wir benötigen also jemanden, der uns das Ganze möglichst allgemeinverständlich erklärt. Diese Funktion wird normalerweise am ehesten von Wissenschafts-Journalisten wahrgenommen, die aber meist für Medien arbeiten, die einen Großteil der Bevölkerung nicht erreichen. Und die meisten klassischen Journalisten wissen um die Mechanismen einer Pandemie ebenso wenig wie ihr Publikum. Fehlerhafte und kaum recherchierte Meldungen sind daher an der Tagesordnung und tragen zur Verunsicherung bei.
Und hier schlägt jetzt die große Stunde des Dunning-Kruger-Effekts und der sozialen Medien. Denn jetzt kommen Menschen ins Spiel, die irgendwann einmal (häufig in einem Video auf YouTube) ein paar Worte aus der Virologie oder der Epidemiologie aufgeschnappt haben, und diese paar Worte dann zu einer mehr oder weniger fantasievollen Geschichte zusammensetzen. Das hat dann zwar mit der Wahrheit nicht viel zu tun, hört sich aber gut an und ist leicht verständlich. Und dank der sozialen Netzwerke erreichen diese Menschen heutzutage in Sekundenbruchteilen ziemlich viele Menschen.
Weil die Wahrheit in dieser Pandemie nun aber ziemlich komplex ist und die meisten Menschen sie nicht ohne Hilfe von einer Lüge unterscheiden können, werden diese Botschaften von vielen Menschen auch tatsächlich geglaubt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das einmal als Infodemie bezeichnet, und darauf hingewiesen, dass das ein genauso großes Problem wie die Pandemie selbst sein dürfte.
Denn es erfordert einen enormen Aufwand, diese Lügengeschichten zu widerlegen, besonders natürlich dann, wenn Tausende von Ihnen sehr schnell auftreten. Der italienische Informatiker Alberto Brandolini hat 2013 eine Lebensweisheit dazu formuliert, die als Brandolinis Gesetz bekannt wurde.
Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Zehnerpotenz mehr Energie als dessen Produktion.
Brandolinis Gesetz, 2013
Glücklicherweise gibt es weltweit unzählige Menschen, die sich mit kaum etwas anderem als der Widerlegung dieses Schwachsinns befassen. Sie nennen sich Fakten-Checker und sind in Zeiten von Fake-News und sozialen Netzwerken wichtiger denn je geworden. Eine Sammlung solcher Faktenchecks finden Sie unter anderem auch hier im Blog.
Der Aufwand ist notwendig, weil sich eine Lüge nun einmal am besten mit der Wahrheit bekämpfen lässt. Aber diese Wahrheit muss auch zu den Menschen durchdringen, und an dieser Stelle haben Regierungen und Medien weltweit kollektiv versagt. Ich habe über dieses Versagen der Kommunikation hier im Blog schon in den Artikeln In der Krise ist Kommunikation alles vom 24. April 2020 und Luxemburgs Kommunikationspolitik – Ein Desaster vom 28. August 2020 geschrieben, das darin gesagte ist leider nach wie vor aktuell.
Lügengeschichten und ihre Profiteure
Lügen rund um Corona gibt es wie Sand am Meer. Gerade hierzulande sind einige davon in letzter Zeit durch ein paar offene Briefe (auf einen davon habe ich meinerseits mit einem offenen Brief geantwortet) mediatisiert worden. Um auf alle diese Lügenmärchen gesondert einzugehen fehlt mir an dieser Stelle der Platz, sie finden aber in meiner Sammlung von Faktenchecks und im Internet Tausende von Widerlegungen zu den meisten davon. Ich möchte mich im Folgenden eher mit der Motivation der Urheber und Verbreiter dieser Lügengeschichten befassen.
Man muss hier zwischen den eigentlichen Urhebern (so bezeichne ich die Menschen, die sich diese Lügenmärchen ausdenken und sie aufschreiben oder verfilmen) und den Mitläufern (so nenne ich diejenigen, die diese Geschichten und Videos dann aufgreifen und weiterverbreiten) unterscheiden, denn das Wissen und die Motivation dieser beiden Gruppen unterscheidet sich erheblich.
Die Motivation der Urheber ist nahezu immer finanzieller Natur. Es geht um finanziell einträgliche Klicks, den Verkauf von Büchern, Videos oder Merchandising-Produkten, das Sammeln von Spenden oder die Finanzierung irgendwelcher Fantasie-Klagen. Diese Menschen mit Hang zum Populismus wissen durchaus, dass ihre Geschichten falsch sind. Die möglichen Folgen ihrer Lügen sind ihnen aber völlig gleichgültig, ihr einziger Antrieb ist das Streben nach Profiten und das „Ausnehmen“ der gutgläubigen Schäfchen.
Die Motivation der Mitläufer, die diese Beiträge teilen, ist meistens einfacher gestrickt, denn hier geht’s fast immer um das Selbstwertgefühl des Einzelnen. Hier kommt der Dunning-Kruger-Effekt voll zum Tragen, diese Menschen lesen oder sehen etwas, fühlen sich als Fachleute, verbreiten die Geschichten dann weiter und freuen sich über jedes Like und jedes Feedback. Letztlich handelt es sich also eher um fehlende Kompetenz und die fehlende Bereitschaft (oder intellektuelle Fähigkeit) zum Aufbau dieser Kompetenz. Diese Menschen bemerken meist weder, welchen Schaden sie mit dem Weiterverbreiten anrichten, noch, dass sie den Urhebern nur als „Mittel zum Zweck“ dienen.
Leider lassen sich weder Urheber noch Mitläufer mit Argumenten oder Fakten erreichen oder umstimmen. Bei den Urhebern funktioniert das nicht, weil sie ja bereits wissen, dass es sich bei ihren Geschichten um Lügen handelt. Und bei den Mitläufern ist es aussichtslos, weil sie tatsächlich an die Geschichten glauben, sich diesbezüglich für kompetent halten und keine anderen Meinungen zulassen.
Trotzdem macht es durchaus Sinn, immer auf solche Lügengeschichten einzugehen und ihnen Fakten gegenüberzustellen. Denn man kann zwar weder die Urheber noch die Mitläufer umstimmen, aber man kann damit die stillen Mitleser erreichen, die nach der Wahrheit suchen. Und davon gibt es viel mehr, als man auf den ersten Blick annehmen würde. In den sozialen Netzwerken machen sie ungefähr 90 Prozent der Leser von Beiträgen und Kommentaren aus, und diese Menschen suchen nach Antworten und sind daher meistens für Argumente und Fakten durchaus offen.
Was bisher passiert ist
Wir erleben derzeit eine Pandemie, die zu den stärksten der letzten Jahrhunderte gehört und sich, gemessen an der Anzahl der Todesfälle und der Geschwindigkeit des Voranschreitens, nur noch mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 vergleichen lässt. Pandemien wie die Beulenpest und HIV/AIDS haben zwar mehr Opfer gefordert, erstrecken sich aber über ungleich längere Zeiträume. Eine Liste von Pandemien der vergangenen Jahrhunderte finden Sie übrigens bei Interesse hier auf Wikipedia.
Eigentlich hätte uns diese Virus-Pandemie nicht einmal besonders überraschen sollen. Wissenschaftler warnen seit Jahrzehnten vor einer durch eine Zoonose (ein vom Tier auf den Mensch überspringender Krankheitserreger) ausgelösten Pandemie. Spätestens das Auftreten von SARS (2002/2003) und MERS (ab 2012) war eine sehr deutliche Warnung vor respiratorischen (über die Atemwege übertragbaren) Viren. Tatsächlich gab es deswegen auch Planspiele wie Modi-SARS der deutschen oder Crimson Contagion der amerikanischen Regierung, die heute von Verschwörungs-Mystikern (dämlicherweise) als Nachweis dafür herangezogen werden, dass das SARS-CoV-2-Virus infolge einer Planung entstanden sei.
Die Angst vor einem hochinfektiösen, respiratorischen Virus wie SARS-CoV-2 war also durchaus vorhanden. Nur dass das tatsächlich so schnell passieren würde, hat auch Fachleute überrascht. So hat beispielsweise Jeremy Farrar (der Direktor des Wellcome-Trusts und einer der renommiertesten Infektiologen der Welt) in einem Interview der ZEIT offen zugegeben, dass er mit einem solchen Ausbruch zwar gerechnet hat, ihn aber eher nicht zu seinen Lebzeiten erwartet hätte.
Aber wenn ich ehrlich bin: Wirklich erwartet, dass so etwas zu meinen Lebzeiten geschieht, habe ich wohl nicht. Ich konnte mir noch im Dezember kaum vorstellen, dass eine Pandemie derart katastrophischen Ausmaßes sich binnen 100 Tagen in alle Länder der Welt ausbreitet.
Jeremy Farrar in einem Interview der ZEIT im April 2020
Dazu kommt, dass das SARS-CoV-2-Virus so ziemlich den Alptraum aller Virologen und Epidemiologen darstellt. Es ist hochinfektiös, über die Atemwege übertragbar, noch vor Symptombeginn ansteckend und bleibt sehr lange im menschlichen Körper aktiv. Zusammengenommen ist das neue Corona-Virus damit gefährlicher, als es der Erreger der Spanischen Grippe (das Influenza-Virus A/H1N1) jemals sein konnte. Die bisher noch bei keinem Virus aufgetretene Kombination von Eigenschaften hat letzten Endes dafür gesorgt, dass sich das SARS-CoV-2-Virus mühelos weltweit ausbreiten konnte, bevor wir das überhaupt realisiert haben.
Die Gefahren, die von diesem Virus ausgehen könnten, waren vielen Virologen im Januar 2020 schon klar, die Geschwindigkeit der Ausbreitung hat dann aber doch überrascht. Wahrscheinlich hätte man die Ausbreitung damals mit harten Maßnahmen noch stoppen können. Aber, Hand aufs Herz, hätte irgendjemand von uns im Januar 2020 einen harten Lockdown akzeptiert?
Aber zumindest sind wir im März relativ gut durch die erste Pandemie-Welle gekommen. Das lag in der Hauptsache daran, dass die Politik im Wesentlichen der Wissenschaft vertraut und ihre Entscheidungen aufgrund der Vorschläge von Virologen und Epidemiologen getroffen hat. Das Gegenteil davon haben wir in Ländern wie den USA, Brasilien oder Großbritannien gesehen, in denen populistische Regierungschefs nach ihren eigenen Vorstellungen gehandelt und damit heftige Krisen ausgelöst haben.
Seit Beginn der zweiten Welle sieht das leider etwas anders aus. Wir haben in Luxemburg diese zweite Welle nie brechen können, sondern waren nur zur Abschwächung von „katastrophal hoch“ auf „viel zu hoch“ imstande. Der Grund dafür ist simpel und hausgemacht, anders als im Frühjahr werden die Aussagen der Wissenschaft von wichtigen politischen Akteuren nicht mehr ernst genommen. Unter dem Eindruck, dass es im Frühjahr besser gelaufen ist als erwartet, wird offenbar lieber jenen geglaubt, die behaupten, so schlimm werde es schon nicht kommen.
Das Licht am Ende des Tunnels
Und so sind wir in eine Situation geraten, die uns auch in den nächsten Monaten beschäftigen wird. Sicherlich wird es dabei schlechte Nachrichten und Rückschläge geben, aber im Moment überwiegen die positiven Neuigkeiten. Ich habe für Sie in den folgenden Absätzen einmal zusammengestellt, auf welche Punkte wir in den nächsten Monaten besonders achten sollten und worüber wir uns freuen können.
Die Betrachtungsweise von Wissenschaft und Politik
Zunächst einmal sollten wir uns klarmachen, dass zwischen dem wissenschaftlichen und dem politischen Denkansatz ein ziemlicher Unterschied besteht. Denn die Wissenschaft arbeitet mit Fakten, in der Politik geht es eher darum, es möglichst allen recht zu machen (der sprichwörtliche „goldene Mittelweg“). Deswegen verschwimmen in der Politik oftmals die Grenzen zwischen wahr und falsch.
An einem kleinen Beispiel lassen sich die Ansätze hervorragend betrachten. Nehmen wir einmal an, Person A behauptet „1+1=2“, während Person B sagt „1+1=3“. Ein Wissenschaftler würde dazu sagen „Person B hat unrecht, das ist falsch!“, während ein Politiker eher zu Aussagen wie „Okay, das ist interessant, treffen wir uns in der Mitte bei 2,5.“ neigt.
Deswegen akzeptiert ein Wissenschaftler keine Querdenker, die davon ausgehen, dass man über ihre Ideen doch diskutieren könne, er bezeichnet solche Ideen schlicht als wissenschaftlich nicht haltbar und damit falsch. Ein Politiker hingegen hat die Tendenz, auch solche Ideen noch zu diskutieren, um einen möglichst breiten Konsens zu finden.
In normalen Zeiten ist dieses politische System auch durchaus die bessere Alternative, weil sich durch die ständige Diskussion neue Denkansätze ergeben können. In den jetzigen Zeiten ist diese Idee hingegen brandgefährlich, weil man mit einem Virus nun einmal nicht diskutieren kann.
Umso mehr Verbreitungs-Möglichkeiten wir dem SARS-CoV-2-Virus geben, desto mehr wird es sich verbreiten. Und es ist ihm dabei völlig gleichgültig, wie gut oder wie schlecht wir es mit unseren Lockerungen gemeint haben. So einfach ist das!
Genau deshalb besteht der einzig erfolgversprechende Ansatz zur Senkung der Neu-Infektionen darin, dem Virus diese Vermehrungs-Möglichkeit so oft wie möglich zu nehmen. Und genau deshalb sollten unsere Politiker sich von dem Gedanken verabschieden, dass sie hier irgendetwas entscheiden würden. Das tun weder sie noch die Wissenschaftler, sondern nur das Virus und wir selbst.
Also, liebe Politiker, berücksichtigt bitte endlich die Vorschläge der Wissenschaft und hört mit den Diskussionsversuchen auf. Ihr macht die Lage damit schlimmer, nicht besser.
An der Impfstoff-Front sieht es gut aus
Im Moment dreht sich die Diskussion bei den Impfstoffen hauptsächlich darum, wann wir wie viele bekommen werden und ob die EU bei der Bestellung versagt hat. Diese Diskussion verdeckt leider die Tatsache, dass wir über den derzeitigen Stand eigentlich sehr glücklich sein sollten.
Zum einen über die Tatsache, dass wir überhaupt jetzt schon Impfstoffe haben. Noch im Juni 2020 waren sich die Wissenschaftler nicht sicher, ob die Entwicklung eines Impfstoffes überhaupt gelingen und ob eine Zulassung vor Ende des Jahres 2021 möglich sein könnte. Auch ich bin damals davon ausgegangen, dass eine Zulassung frühestens Mitte 2021 erfolgen würde (nachzulesen hier).
Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, waren wir da alle viel zu pessimistisch. Die Pharma-Industrie hat es tatsächlich hinbekommen, bis Ende 2020 nicht nur einen, sondern gleich drei Impfstoffe (BioNTech, Moderna und AstraZeneca) zulassungsfähig zu bekommen. Und die Europäische Union hat es geschafft, so eng mit den Herstellern zusammenzuarbeiten, dass eine Normal-Zulassung in einer Rekordzeit möglich wurde. Das war noch vor einem guten halben Jahr kaum zu erwarten, und wir sollten darüber eigentlich sehr glücklich sein.
Und zum zweiten die Tatsache, dass die Impfstoff-Produktion tatsächlich funktioniert. Im meinem oben genannten Artikel vom Juni 2020 habe ich den Aufbau der nötigen Produktionskapazitäten als Jahrhundertaufgabe bezeichnet. Aber die Pharma-Industrie hat es tatsächlich geschafft, die notwendige zusätzlich Kapazität innerhalb eines Jahres auf die Beine zu stellen. Deswegen sollten wir uns nicht über den einen oder anderen Produktions-Engpass beklagen, sondern eher den Aufbau der Produktion als das bezeichnen, was es ist, nämlich eine Meisterleistung.
Letztlich könnten wir es dank der Impfstoffe und dank unseres eigenen Verzichts tatsächlich schaffen, diese Pandemie trotz des Auftretens der Mutationen bis zum kommenden Sommer soweit unter Kontrolle zu bekommen, dass wir wieder über ein nahezu normales Leben nachdenken können. Und darüber sollten wir eigentlich glücklich wie sonstwas sein.
Und, so ganz nebenbei bemerkt, war der Weg der EU zu einer Normal-Zulassung aus Sicherheits- und Haftungs-Gründen der einzig sinnvolle, auch wenn er ein paar Wochen länger gedauert hat. Witzigerweise regen sich jetzt gerade die Menschen fürchterlich über den langsamen Anlauf der Impfkampagnen auf, die sich sonst immer über fehlende Sicherheit durch eine beschleunigte Zulassung beschwert haben. Na ja, manche sind offenbar nicht zufrieden, wenn sie nicht über irgendwas meckern können.
Mittlerweile gibt es eventuell sogar eine dritte wirklich gute Neuigkeit. In einer Studie der Universität Oxford zum AstraZeneca-Impfstoff (die allerdings noch nicht überprüft wurde) sieht es danach aus, als ob die Impfung auch die Übertragbarkeit des Virus um mindestens 50% reduzieren würde. Sollte sich das bewahrheiten, dann würden wir unserem Ziel eines normalen Lebens soeben wieder ein Stückchen näher gekommen sein (siehe auch hier bei der Universität Oxford und hier bei N-TV).
Mehr über die Impfung und die Bestellpolitik der EU finden Sie übrigens auch in den Artikeln Fragen und Antworten zur Impfung gegen Covid-19 vom 9. Januar 2021 und Wissenswertes über mRNA-Impfstoffe vom 30. November 2020 in diesem Blog.
Die SARS-CoV-2-Mutanten
In den letzten Wochen ist immer mehr von Mutationen des SARS-CoV-2-Virus die Rede. Der Begriff „Mutant“ hat einen recht negativen Beigeschmack, obwohl er eigentlich etwas völlig Normales ist. Denn es liegt in der Natur eines Virus, dass es sich ständig verändert, und das hat nichts mit einem Plan oder mit Boshaftigkeit zu tun. Es kann einfach nicht anders, und ich möchte Ihnen hier kurz aufzeigen, warum das so ist.
Viren sind die erfolgreichste Existenzform auf unserem Planeten, obwohl sie gar keine lebendigen Wesen sind (dazu fehlt ihnen der eigene Stoffwechsel). Aber sie sind sehr erfolgreich darin, sich von einem Wirt zum nächsten zu verbreiten und dort Zellen dazu zu veranlassen, Kopien des Virus herzustellen. Dazu bringt es seinen Bauplan (in Form von mRNA) in eine Zelle ein, setzt sein Erbgut frei und erlischt dann. Aber der eingebrachte Bauplan sorgt dafür, dass aus den Ressourcen der Wirtszelle Tausende von neuen Viren entstehen.
Nur dass das mit dem Bauplan und dem Kopieren nicht so richtig funktioniert, denn beim „Abschreiben“ des Bauplans entstehen immer kleine Fehler (bei Corona-Viren übrigens weitaus weniger als beispielsweise bei Influenza-Viren, weil sie im Gegensatz zu Influenza-Viren über einen Korrektur-Mechanismus verfügen). Trotz dieses Korrektur-Mechanismus gibt es kaum jemals eine identische Kopie, es entstehen Varianten bzw. Mutanten.
Das ist von der Natur auch durchaus so gewollt, denn ein Virus kann nur durch ständige Veränderungen langfristig überleben. Was daran liegt, dass unser Immunsystem immer wirkungsvollere Antikörper gegen ihm bekannte Viren erzeugt, ein sich nicht veränderndes Virus hätte deswegen keine allzu großen Überlebens-Chancen.
Die meisten dieser Mutationen gehen sehr schnell wieder unter, weil durch die Kopierfehler eine nicht überlebensfähige Version des Virus entsteht. Aber manchmal entsteht dabei aus einem puren Zufall heraus eine verbesserte Variante des Virus. Das können Mutationen sein, die dafür sorgen, dass das Virus vom Immunsystem nicht mehr erkannt wird (man spricht dann übrigens von einer Flucht- oder Escape-Mutation) oder es können Mutationen mit verstärkten Fähigkeiten sein (beispielsweise infektiösere Varianten, man spricht hier von erhöhter Fitness des Virus).
Wenn man nun aber sehr viel Pech hat, dann entstehen aus solchen Kopierfehlern Varianten, die sich besser vor dem Immunsystem verstecken können und gleichzeitig fitter sind. Das kann übrigens besonders leicht dann passieren, wenn zwei verschiedene Varianten in einem Wirt zusammentreffen und sich dann das Erbgut dieser Varianten vermischt. Jedenfalls scheint im Falle von SARS-CoV-2 den Mutanten B.1.1.7 (Großbritannien), 501Y.V2 (Südafrika) und P.1 (Brasilien) dieses Kunststück geglückt zu sein. Diese Varianten sind offenbar schneller, infektiöser und gefährlicher als die bisher bekannten Formen.
Das ist grundsätzlich eher schlecht für uns, weil diese Varianten die Reproduktionszahl offenbar um rund 35 % erhöhen. Das wiederum ist schlecht, weil es dafür sorgt, dass wir in den nächsten Monaten noch etwas mehr Kontakt vermeiden müssen, um das ausgleichen zu können. Und es wird hierzulande zu einem Problem führen, weil unser Bildungsministerium mitten im Auftauchen der B.1.1.7-Variante unbedingt und gegen jeden wissenschaftlichen Rat die Schulen wieder öffnen musste (mehr dazu können Sie bei Interesse im Artikel Corona und die Strategie für die nächsten Monate in diesem Blog lesen).
Update vom 4. Februar 2021: Das luxemburgische Bildungsministerium hat gerade bekanntgegeben, dass Grundschulen, Kompetenzzentren und Musikschulen hierzulande ab dem kommenden Montag für zwei Wochen geschlossen bleiben. Als Grund wurde das vermehrte Auftreten der Mutanten genannt. Das war zwar absehbar und kommt einige Wochen zu spät, aber es könnte die Situation hierzulande wieder etwas kontrollierbarer machen. Bleibt zu hoffen, dass diese Entscheidung jetzt auch Bestand haben wird, bis sich das Infektions-Geschehen hierzulande wieder deutlich verringert hat.
Aber es gibt auch gute Neuigkeiten bezüglich dieser Mutationen. Denn der den Coronaviren eigene Korrektur-Mechanismus (von dem weiter oben bereits die Rede war) ist für die Impfstoff-Entwicklung ein ausgesprochener Glücksfall. Dadurch entstehen weitaus seltener gefährliche Mutationen, als das bei anderen Viren der Fall ist. Bei Influenza und vor allem bei HIV stellen die sehr zahlreich und schnell auftretenden Mutationen ein erhebliches Problem für die Impfstoffentwicklung dar. Deswegen gibt es bisher trotz aller Forschung keine Impfung gegen HIV und deswegen muss die Influenza-Impfung jedes Jahr erneuert werden und wirkt längst nicht gegen alle umlaufenden Viren.
Die richtig gute Neuigkeit ist denn auch, dass zumindest die in der EU zugelassenen mRNA-Impfstoffe von BioNTech und Moderna offenbar gegen die bisher aufgetauchten Varianten immer noch hochgradig wirksam sind. Die fortlaufende Impfung der Bevölkerung und das Erreichen einer Herdenimmunität durch die Impfung sollte durch die bisher aufgetauchten Mutanten also nicht in Frage gestellt sein.
Wie es jetzt weitergehen wird
An diesem Punkt wird’s etwas problematisch, aber wir wollten ja über die Wahrheit reden, damit Sie sich darauf einstellen können. Und die Wahrheit ist leider, dass wir in vielen Ländern Europas aller Voraussicht nach in den nächsten Wochen ein paar heftige Probleme mit der Entwicklung dieser Pandemie bekommen werden. Tatsächlich sind diese Probleme bereits heute als Trend sichtbar und sollten in den nächsten Tagen/Wochen noch deutlich sichtbarer werden.
Denn unsere Regierung (und nicht nur unsere) scheint derzeit eher wirtschaftliche Erwägungen zu verfolgen und hat das bisher wirklich gute Pandemie-Handling entgegen dem Rat der eigenen Covid-Taskforce gegen verfrühte Lockerungen (besonders an den Schulen) eingetauscht. Diese Entscheidung hat die Bevölkerung starken Risiken ausgesetzt, weil zu diesem Zeitpunkt die B.1.1.7-Variante hierzulande nachgewiesenermaßen bereits sehr aktiv war (siehe hier in den Sentinelle-Berichten des LNS).
Wir haben deswegen hierzulande momentan eine Zunahme der Wochen-Inzidenz pro 100.000 Einwohner auf knapp 160 und eine steigende Tendenz der Neu-Infektionen zu verzeichnen (Stand: 2. Februar 2021). Wir leisten uns zusammen mit Belgien die schwächsten Eindämmungs-Maßnahmen unserer Nachbarländer und haben gerade deswegen diese steigende Tendenz zu verzeichnen. Im Vergleich unten sieht man recht gut, dass die Tendenz nur in Deutschland und den Niederlanden eher sinkend ist, in diesen beiden Länder sind die Schulen geschlossen. Unser Bildungsminister scheint hingegen nach dem Motto „Augen zu und durch“ zu verfahren und nimmt offenbar die mannigfaltigen Risiken bewusst in Kauf.
Update vom 4. Februar 2021: Das luxemburgische Bildungsministerium hat gerade bekanntgegeben, dass Grundschulen, Kompetenzzentren und Musikschulen hierzulande ab dem kommenden Montag für zwei Wochen geschlossen bleiben. Als Grund wurde das vermehrte Auftreten der Mutanten genannt. Das war zwar absehbar und kommt einige Wochen zu spät, aber es könnte die Situation hierzulande wieder etwas kontrollierbarer machen. Bleibt zu hoffen, dass diese Entscheidung jetzt auch Bestand haben wird, bis sich das Infektions-Geschehen hierzulande wieder deutlich verringert hat.
Momentan lässt sich kaum absehen, wo das hinführen wird, sicher scheint nur, dass es schlechter werden wird. Wie viele Neu-Infektionen pro Tag es tatsächlich werden, dürfte von der Durchdringung mit der B.1.1.7-Variante und deren Einfluss auf das Infektions-Geschehen bei jüngeren Menschen abhängen. Ich würde nach dem derzeitigen Stand von durchschnittlich 200 bis 250 Neu-Infektionen pro Tag bis Ende nächster Woche ausgehen, je nach Durchdringung der B.1.1.7-Mutante könnten es durchaus auch mehr werden. Die Karnevalsferien werden das Infektions-Geschehen vermutlich kaum beruhigen können, dazu ist die aktuelle Inzidenz viel zu hoch und das Virus viel zu sehr in der breiten Bevölkerung aktiv.
Wir werden daher, ob wir das nun wollen oder nicht, die Zahl der Neu-Infektionen hierzulande stark drücken müssen. Die Europäische Union hat ein System erarbeitet, mit dessen Hilfe sich die europäischen Länder je nach Infektions-Geschehen in Risiko-Gruppen einteilen lassen. Wenn wir Grenzschließungen vermeiden und selbst ins Ausland reisen dürfen wollen, dann werden wir nach diesem System zu einer „grünen“ Zone werden müssen. Und das wird viel Arbeit bedeuten.
Ohne starke Einschränkungen (insbesondere bei den Schulen) wird das nicht möglich sein, ein paar mögliche Maßnahmen habe ich im Artikel Corona und die Strategie für die nächsten Monate vom 26. Januar 2021 beschrieben. Und das luxemburgische LISER (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research) hat am 21. Januar 2021 eine Studie auf nature.com veröffentlicht, die ganz ähnliche Maßnahmen empfiehlt (auch RTL hat darüber hier berichtet).
Das Problem dabei ist, dass das sehr zeitkritisch ist. Umso länger wir warten und umso mehr die infektiöseren Mutanten hierzulande aktiv werden, desto länger und härter werden diese Einschränkungen ausfallen. Und eines ist ebenfalls sicher: je länger wir zu harten Maßnahmen gezwungen sein werden, desto schwieriger wird diese Phase für Bevölkerung und Wirtschaft. Schon alleine aus diesem Gedankengang heraus sollten wir möglichst schnell beginnen.
Mehr Informationen über den kritischen Zeitfaktor bei exponentiellen Steigerungen finden Sie auch im Artikel Infektions-Dynamik oder warum es dauert, bis Lockerungs-Auswirkungen sichtbar werden in diesem Blog. Mehr Informationen über die No-Covid-Strategie, auf der das System der EU beruht, finden Sie in diesem Positionspapier, einen Bericht der ZEIT dazu gibt es hier.
Fazit
Ja, wir werden noch einige harte Monate mit vielen Einschränkungen vor uns haben. Denn wir müssen die Anzahl der Neu-Infektionen so weit herunter bekommen, dass die Pandemie wieder kontrollierbar wird und eventuelle Ausbrüche wieder nachverfolgt werden können. Die einzige Eingriffsmöglichkeit, die wir haben, ist die Reduzierung der zwischenmenschlichen Kontakte.
Aber, und das ist sehr wichtig, es gibt auch viele Gründe für Optimismus, das Licht am Ende des Tunnels ist mittlerweile deutlich sichtbar. Die Impfungen werden es uns ermöglichen, Schritt für Schritt wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden. Und im zweiten Quartal des Jahres werden nach allen vorliegenden Informationen auch genug Impfstoffe verfügbar sein, damit die Impfungen wie geplant voranschreiten können.
Deswegen sollten (und müssen) wir bis zum Beginn des Sommers und dank unserer gemeinsamen Anstrengungen imstande sein, die Wochen-Inzidenz soweit zu senken, dass wir den Sommer dann auch tatsächlich auf den Terrassen mit Freunden und sozialem Leben wieder in vollen Zügen genießen können. Dazu brauchen wir unsere eigene Mitwirkung beim Einhalten der Regeln und wir brauchen die Regierung, damit sie uns bei der Reduzierung der Kontakte hilft. Die bereits oben angesprochene LISER-Studie (ebenso wie diese auf Science erschienene Studie) zeigt uns die vier Maßnahmen, die wir dazu jetzt brauchen, in der Reihenfolge ihres Einflusses auf die Verbreitung:
- Absage öffentlicher Veranstaltungen
- Einschränkung privater Kontakte
- Schließung der Schulen
- Übergang auf Tele-Arbeit
Das sind die Maßnahmen, die wir JETZT zur Eindämmung der Pandemie benötigen. Und wir werden sie solange benötigen, bis die Neu-Infektionen wieder auf ein auch europaweit akzeptables Niveau (Wochen-Inzidenz pro 100.000 Einwohner unter 25 und Positiv-Rate der Tests unter 4%) abgesunken sind. Der Erfolg der Maßnahmen lässt sich für die Bürger beispielsweise mit einem Ampel-System sichtbar machen, wie es Christian Klein hier in seinem Blog vorgeschlagen hat. Sicher ist allerdings auch heute schon, dass diese Maßnahmen umso länger und härter sein werden, desto länger wir jetzt damit warten.
Auch das bedeutet übrigens nicht, dass wir im Sommer wieder vollends zu unserem gewohnten Leben zurückkehren können. Wir werden nach wie vor mit Einschränkungen leben müssen und wir werden keine vollständige Reisefreiheit bekommen. Irgendwo wird es noch bis wenigstens zum Ende des Jahres hin irgendwelche roten Zonen geben.
Aber es bedeutet, dass wir uns jetzt so langsam auf einen angenehmen Sommer mit einem annähernd normalen Leben und sozialen Kontakten freuen können, wenn wir das jetzt hinbekommen. Und dazu kann jeder von uns beitragen, wenn er oder sie sich an die Regeln hält und jede Möglichkeit zum Testen oder zur Impfung wahrnimmt. Dann werden wir gemeinsam das Ziel erreichen, Luxemburg zur europäischen „Green Zone“ zu machen.
In eigener Sache: Wenn Ihnen dieser Artikel gefällt, dann können Sie mir das Schreiben und Recherchieren gerne mit einem Kaffee oder einer kleinen Spende versüßen. Eine Möglichkeit dazu finden Sie auf der Seite Buy me a coffee.
Wie denken Sie darüber? Haben Sie Anmerkungen oder andere Ideen zu diesem Thema? Oder sehen Sie es ganz anders? Schreiben Sie es mir in den Kommentaren.
Durch das Abschicken des Kommentars werden die eingegebenen Daten in der Datenbank dieser Website gespeichert. Ausserdem speichern wir aus Sicherheitsgründen Ihre IP-Adresse für einen Zeitraum von 60 Tagen. Weitere Informationen zur Datenverarbeitung finden Sie in der Datenschutz-Erklärung.