Infektions-Dynamik oder warum es dauert, bis Lockerungs-Auswirkungen sichtbar werden
Zuletzt aktualisiert am 16. April 2021 von Claus Nehring
In der Gesellschaft (und leider vielfach auch in der Politik) findet sich häufig ein gewisses grundlegendes Unverständnis dafür wieder, warum sich Maßnahmen oder deren Lockerung mit einer so großen Verzögerung auswirken und warum die Zahlen des jeweiligen Tages ein Infektions-Geschehen widerspiegeln, das mehrere Wochen zurückliegt.
Deswegen möchte ich in diesem Artikel einmal aufzeigen, wie sich das Infektions-Geschehen überhaupt entwickelt. Ich möchte Sie dabei nicht zu sehr mit Modell-Rechnungen langweilen, sondern das Problem eher in einfachen Worten anhand von ein paar Beispielen erläutern.
Zum besseren Verständnis möchte ich aber mit ein paar Begriffserklärungen beginnen, damit der spätere Teil besser verständlich wird.
Die Inkubationszeit
Zunächst einmal liegt zwischen dem ersten Kontakt mit einem Krankheits-Erreger (in diesem Fall eben das SARS-CoV-2-Virus) und dem Auftritt der ersten Symptome eine gewisse Dauer. Man nennt diesen Zeitraum die Inkubationszeit, sie beträgt bei SARS-CoV-2 im Mittel zwischen 5 und 6 Tagen, manchmal kann es auch etwas schneller gehen oder bis zu 14 Tagen dauern.
Bei vielen Krankheits-Erregern beginnt die Infektiösität (das ist die Phase, in der ein Infizierter andere Personen anstecken kann) so ungefähr mit dem Auftreten von Symptomen, in diesen Fällen spüren Sie bereits, dass Sie krank sind, bevor Sie für andere Menschen ansteckend sind. Dummerweise ist das bei SARS-CoV-2 nicht der Fall, hier beginnt die infektiöse Phase bereits einige Tage vor dem Erscheinen erster Symptome.
Anmerkung: Dieses spezielle Verhalten des SARS-CoV-2-Virus stellt eines unserer größeren Probleme dar, denn deswegen kann ein Infizierter andere Menschen anstecken, bevor er überhaupt erste Anzeichen einer Erkrankung bemerkt (die sog. präsymptomatische Infektion). Erschwerend kommt noch hinzu, dass viele Infizierte nur leichte (leicht symptomatisch) oder sogar überhaupt keine Symptome einer Erkrankung (asymptomatisch) zeigen, aber trotzdem andere Menschen anstecken können.
Die infektiöse Phase
Die sog. infektiöse Phase (das ist der Zeitraum, in dem eine infizierte Person andere Menschen anstecken kann) beginnt bei SARS-CoV-2- einige Tage vor dem Auftreten erster Symptome und hält für rund zwei Wochen an. In dieser Zeit vermehrt (repliziert) sich das Virus im oberen Rachenraum und kann beim Atmen, Sprechen, Singen usw. in Form von Tröpfchen in den Raum abgegeben werden.
Die Ergebnisse einer bei Lancet veröffentlichten Meta-Studie der University of St. Andrews in Schottland legen nahe, dass die höchste Ansteckungsgefahr für andere Menschen dabei in den meisten Fällen zwischen dem ersten Tag vor Symptombeginn bis zum fünften Tag danach reichen dürfte. Das stimmt übrigens auch mit vielen Kontaktverfolgungsstudien überein, die ebenfalls zu dem Ergebnis kommen, dass die meisten Infektionen in diesem Zeitraum auftreten.
In einer Grafik sieht das dann so aus: der hellgrün unterlegte Bereich stellt die infektiöse und der dunkelgrün unterlegte die hochinfektiöse Phase dar.
Über Beispiel-Rechnungen
In diesem Beispiel ist von einem fiktiven Gebäude die Rede, in dem sich eine bestimmte Anzahl von Menschen regelmäßig in Innenräumen trifft. Das könnte beispielsweise eine Schule, ein Unternehmen, eine öffentliche Verwaltung oder ein Restaurant sein, die Ausbreitungsmechanismen bleiben dieselben.
Da die Übertragung von SARS-CoV-2 in Innenräumen durch Aerosol-Wolken erfolgt, lassen sich verschiedene Räume nur bedingt vergleichen. In Räumen mit schlechter Belüftung und lauteren Gesprächen (beispielsweise Cafés) ist das Verbreitungsrisiko deutlich höher als in Räumen mit ordentlicher Belüftung und genügend Abständen zwischen den einzelnen Personen. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sorgt ebenfalls für ein geringeres Infektions-Risiko.
Solche Beispiele sind also immer mit etwas Vorsicht zu genießen, weil sie die Situation in einem bestimmten Raum nur unzureichend widerspiegeln können. Trotzdem sind sie recht nützlich, um das Infektions-Geschehen und die Zeitabläufe zu verdeutlichen.
In meinem Beispiel gehe ich davon aus, dass das Infektions-Risiko in meinem Beispiel-Raum bei 5 Prozent innerhalb von zwei Tagen liegt (dass also eine infizierte Person eine andere Person von 20 innerhalb von zwei Tagen anstecken würde).
Anmerkung: Einen einfachen Rechner, mit dem Sie das Infektions-Risiko für verschiedenen Räume und verschiedene Situationen selbst ermitteln können, finden Sie übrigens hier bei der ZEIT.
Das Beispiel
Nehmen wir einmal an, wir hätten eine Schule irgendwo in Luxemburg vor uns. In dieser Schule hätten wir zweihundert Schüler, die sich auf zehn Klassen verteilen. Bei der derzeitigen Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus in Luxemburg ist die Chance relativ hoch, dass sich unter diesen zweihundert Schülern (oder dem Schulpersonal) wenigstens einer befindet, der mit SARS-CoV-2 infiziert ist und sich gerade in der infektiösen Phase befindet.
Bei der oben genannten Ansteckungs-Rate hätten wir in dieser Schule am Ende der ersten Schulwoche also vermutlich bereits 3 infizierte Personen, die zu diesem Zeitpunkt alle noch keine Symptome aufweisen würden. Die zweite Schulwoche würden wir dann mit drei Infizierten beginnen, am Ende der zweiten Woche wären daraus dann bereits 9 Infizierte geworden. Werden diese Infektionen nicht entdeckt (was ziemlich wahrscheinlich ist, da jüngere Menschen eher selten schwere Symptome entwickeln), würden daraus am Ende der dritten Schulwoche bereits 27 Infizierte werden.
Nun hört es damit aber noch lange nicht auf. Denn unsere fiktiven Schüler verschwinden ja nach der Schule nicht einfach, sondern gehen nach Hause und/oder treffen Freunde. Wir können also getrost davon ausgehen, dass aus jeder dieser Begegnungen weitere Infektionen entstehen und dass jeder dieser weiteren Infizierten nach ungefähr einer Woche in seiner infektiösen Phase ankommt und dann auch wieder andere Menschen ansteckt.
Bemerken werden wir dieses Infektions-Geschehen erst dann, wenn die ersten Infizierten Symptome aufzuweisen beginnen oder zufällig bei einem der regelmäßigen PCR-Tests (die ja längst nicht jeder bekommt) entdeckt werden. Das ist allerdings frühestens am Ende der zweiten Woche zu erwarten, und dann hat ein Großteil der Infektionen ja bereits stattgefunden.
Auf diese Art und Weise entsteht exponentielles Wachstum. Wenn Sie sich jetzt zufällig an die altbekannte Reiskorn-Legende erinnert fühlen sollten, dann haben Sie die Problematik erfasst. So schnell können aus einem Infizierten an einer Schule in ein paar Wochen einige hundert Infizierte in der Bevölkerung werden. Und erst dann bemerkt werden, wenn es bereits zu spät ist.
Das hier sind übrigens keineswegs neue Erkenntnisse, wir sehen ein ähnliches Infektionsgeschehen bei den alljährlichen Grippewellen. Nur ist das bei der Influenza nicht so übermäßig gefährlich, weil die meisten Erwachsenen über eine Grundimmunität verfügen. Bei SARS-CoV-2- ist genau diese Grundimmunität nicht gegeben, dass macht dieses Virus so gefährlich.
Anmerkung: ich habe die Ausbreitung von Infektionen hier bewusst einfach dargestellt und zugunsten einer besseren Verständlichkeit auf wissenschaftliche Genauigkeit viele Details verzichtet. Das hier genannte Beispiel dient nur dem besseren Verständnis exponentieller Ausbreitungen.
Was kann man dagegen tun?
Leider lässt sich das Infektions-Geschehen nicht einfach so stoppen, das ginge nur durch einen vollständigen Verzicht auf soziale Interaktionen. Was wiederum unmöglich ist. Damit bleiben uns nur drei Möglichkeiten.
Die Ausbreitung verlangsamen
Zum Teil haben wir’s hier selbst in der Hand, denn das SARS-CoV-2-Virus braucht uns als Wirt, um sich überhaupt verbreiten zu können. Umso mehr wir ihm diese Übertragungsmöglichkeit nehmen, desto langsamer schreitet das Wachstum voran. Deswegen sollten wir auch weiterhin auf Abstand achten, einen Mund-Nasen-Schutz tragen und unsere sozialen Kontakte so weit wie möglich einschränken.
Zum anderen kann die Regierung dafür sorgen, dass die typischen Verbreitungs-Punkte aus dem Infektions-Geschehen entfernt werden. Dazu gehören neben Cafés und Restaurants vor allem auch Schulen, Kinos, Theater und so weiter. Im Prinzip halt alle nicht unbedingt lebensnotwendigen Räumlichkeiten, in denen sich viele Menschen über einen längeren Zeitraum aufhalten.
Infizierte Personen so schnell wie möglich erkennen
Die hierzulande angewandte Test-Strategie ist sehr gut und erleichtert die Kontrolle der Pandemie-Lage erheblich. Bei dem hochdynamischen Infektions-Geschehen, das wir derzeit erleben, ist sie allerdings nicht mehr ausreichend. Denn selbst bei dem systemrelevanten Personenkreis reicht ein PCR-Test alle zwei Wochen zur Kontrolle des derzeitigen Geschehens einfach nicht mehr aus (geschweige denn bei der Mehrzahl der Menschen, die deutlich weniger häufig getestet werden).
Wir sollten jetzt möglichst schnell zur Nutzung von Antigen-Schnelltests übergehen. Ein Schnelltest bei jedem Eintritt in eines der nach wie vor geöffneten Gebäude mit hoher Besucherfrequenz (Schulen, Krankenhäuser, Altenheime, Verwaltungen usw.) könnte dafür sorgen, dass wir einen hohen Anteil der hochinfektiösen Personen noch vor dem Zutritt zu einem Gebäude identifizieren und isolieren können.
Das ist natürlich von dem am Markt verfügbaren Mengen solcher Schnelltests abhängig, aber ohne sie dürfte die weitere Öffnung solcher Gebäude in den nächsten paar Monaten kaum möglich sein.
So viel wie möglich gegen Covid-19 impfen
Ein weiterer wichtiger Baustein in einer Strategie gegen Covid-19 ist natürlich die Impfung. Denn selbst wenn eine Impfung keinen hundertprozentigen Schutz vor der Ansteckung anderer Menschen bietet, so reduziert sie das Risiko solcher Ansteckungen nach aktuellen Studien wohl doch erheblich. Denn durch die Impfung wird offenbar die Viruslast im Rachenraum gemindert, damit geht dann automatisch auch ein geringeres Übertragungs-Risiko einher.
Eine Impfung sorgt zunächst einmal dafür, dass der Geimpfte ein sehr geringes Risiko für einen schweren Verlauf einer eventuellen Covid-19-Erkrankung hat. Aber sie sorgt eben auch dafür, dass das von dieser Person ausgehende Ansteckungs-Risiko wohl deutlich geringer sein dürfte.
Mehr über Impfstoffe gegen Covid-19 finden Sie übrigens auch im Artikel Fragen und Antworten zur Impfung gegen Covid-19 in diesem Blog.
Fazit
Der Artikel soll aufzeigen, wie schnell sich Infektions-Ketten bilden können. Er bildet bewusst nur einen sehr kleinen Teil des Infektions-Geschehens ab, Dinge wie der internationale Reiseverkehr wurden außen vor gelassen. Auch die Entwicklung in den Kliniken, die dem eigentlichen Geschehen weitere ein bis zwei Wochen hinterherhängt, ist hier nicht erwähnt worden, weil sie nichts mit der Grundproblematik der exponentiellen Ausbreitung zu tun hat.
Allerdings sollte aus den obigen Beispielen klar werden, dass (selbst wenn die neuen SARS-CoV-2-Varianten nicht für eine Beschleunigung des Infektions-Geschehens sorgen) wir JETZT handeln müssen. Denn die jetzigen Lockerungen eröffnen neue Infektions-Wege, die wir erst dann wirklich in den Zahlen bemerken werden, wenn es bereits zu spät ist.
Wenn wir jetzt nicht mit neuen und verschärften Maßnahmen gegensteuern, dann wird uns das Virus innerhalb weniger Wochen dazu zwingen. Wir sollten hierzulande möglichst schnell dem deutschen Weg folgen und die wirtschaftlichen Folgen in Kauf nehmen. Denn umso länger wir warten, desto härter werden die Einschnitte werden. Und desto schwerer wird dann auch der Schaden für die Wirtschaft sein.
Natürlich ist mir bewusst, dass in der derzeitigen Situation mit recht ordentlich aussehenden Zahlen eine Entscheidung zu weiteren Einschränkungen politisch schwierig ist (auch das sehen wir gerade in Deutschland). Während des ersten Lockdown hat der Ausspruch „There is no glory in Prevention“ von Christian Drosten das politische Problem so ziemlich auf den Punkt gebracht, gültig ist er auch heute noch.
Und mir ist auch bewusst, dass sich gutgemeinte Initiativen wie Zero Covid oder der Aufruf für die konsequente Eindämmung der COVID-19-Pandemie in Europa kaum vollumfänglich realisieren lassen. Ein kurzer und starker Lockdown dürfte sicherlich die Neu-Infektionen senken, der Richtwert von maximal zehn Neuinfektionen pro Million Einwohner und Tag dürfte allerdings, auch ohne Einbeziehung der Virusvarianten aus Großbritannien und Südafrika, beim derzeitigen Infektions-Geschehen eher illusorisch sein.
Der Lösungs-Ansatz einer Green-Zone-Strategie in dem von deutschen Wissenschaftlern ausgearbeiteten No-Covid-Papier ist allerdings hochinteressant und ich werde in einem der folgenden Artikel noch einmal näher darauf eingehen.
Trotzdem brauchen wir JETZT Entscheidungen für eine weitere Eindämmung, auch wenn sie schwerfallen. Wenn wir damit hierzulande bis zum Auslaufen der aktuellen Covid-Gesetze zum 1. Februar warten, dann dürfte es aller Wahrscheinlichkeit nach wohl zu spät sein.
Mehr über Eindämmungsmaßnahmen, ihre Nützlichkeit und die derzeitige luxemburgische Strategie finden Sie bei Interesse übrigens auch im Artikel Sind die Lockerungen und die Schulöffnung in Luxemburg verantwortungslos? in diesem Blog.
In eigener Sache: Wenn Ihnen dieser Artikel gefällt, dann können Sie mir das Schreiben und Recherchieren gerne mit einem Kaffee oder einer kleinen Spende versüßen. Eine Möglichkeit dazu finden Sie auf der Seite Buy me a coffee.
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