Junge Menschen, der Spielball der Politik in der Pandemie
Zuletzt aktualisiert am 21. August 2021 von Claus Nehring
Junge Menschen kriegen’s im Moment gerade von allen Seiten ab. Bildungspolitiker wollen sie trotz hoher Inzidenzen in den Schulen durchseuchen, damit die Eltern in Ruhe arbeiten gehen können. Die etwas älteren dieser jungen Menschen dürfen derweil ohne umfassende Regeln für Heimarbeit weiterhin arbeiten gehen, damit die Wirtschaft weiter funktioniert.
Obwohl sie zur Schule bzw. zur Arbeit gehen müssen, müssen sie sich an die Social-Distancing-Maßnahmen halten, um den älteren Teil der Bevölkerung zu schützen. Und weil sie jung sind und damit per se nicht zur Risiko-Gruppe zählen und weil Impfstoffe immer noch ein knappes Gut sind, bekommen sie zunächst einmal auch keine Impfung angeboten.
Auf der anderen Seite schreien Bevölkerung, Medien und Politik mit fortschreitender Impfung immer lauter nach Lockerungen für bereits geimpfte Personen, zu denen die jüngeren Menschen bisher mangels Impfangebot eben nicht gehören.
Klingt irgendwie alles nicht sonderlich logisch, oder? Ist aber leider Realität. Sehen wir’s uns daher einfach einmal der Reihe nach etwas näher an.
Junge Menschen in den Bildungseinrichtungen
Wenn man manche Bildungspolitiker (und erstaunlicherweise auch einige Eltern und ein paar Lehrer) so hört, dann könnte man glauben, dass es für Schüler derzeit nichts wichtigeres als den erfolgreichen Abschluss des aktuellen Schuljahres gibt.
Die Argumentation dabei ist wahlweise:
- dass die späteren Chancen in der Arbeitswelt durch das Wiederholen des aktuellen Schuljahres erheblich leiden würden
- dass ein Umstieg auf ein länger andauerndes Home-Schooling hauptsächlich die sowieso schon schwächeren Schüler noch zusätzlich benachteiligen würde
- dass die psychologischen Folgen einer eventuellen Schließung der Schulen für die Schüler viel zu hoch seien
Alle diese Argumente sind viel zu kurz gedacht und werden trotzdem immer wieder gerne genutzt, weil die heutige Politik nun einmal gerne auf die Vereinfachung von Argumenten setzt. Deswegen gibt’s in den folgenden Absätzen eine kurze Einordnung dazu.
Das Wiederholen eines Schuljahres ist etwas ziemlich Normales, auch vor Corona ist das in Europa fast einem Drittel der Schüler bis zu 15 Jahren schon einmal passiert (die Zahlen unterscheiden sich von Land zu Land, hier bei RTL gibt es beispielsweise eine Aufstellung aus dem Jahre 2015). Letztlich beeinträchtigt ein „Sitzenbleiben“ die späteren Chancen im Berufsleben eher nicht und das ist auch allen Akteuren durchaus bewusst (mittlerweile ist übrigens in vielen Ländern auch das freiwillige Wiederholen einer Klasse zum Erreichen eines besseren Notendurchschnitts auch gerade für ältere Schüler eine gern genutzte Option).
Die Benachteiligung schwächerer Schüler hingegen ist ein durchaus reales Risiko. Es ist durchaus bekannt (und nicht erst seit Corona), dass leistungsschwache Schüler im Allgemeinen auch demotivierte Schüler sind (mit der Frage, ob da jetzt die Leistungsschwäche oder die Demotivation ursächlich ist, lassen sich ganze Bücher füllen, den Rahmen dieses Artikels würde es sprengen). Demotivierte Schüler haben schon im klassischen Präsenz-Unterricht Nachteile, im Home-Schooling kommen Motivations-Probleme naturgemäß noch stärker zum Tragen.
Auch die sozialen Verhältnisse spielen beim Home-Schooling durchaus eine Rolle. Naturgemäß fällt das Lernen leichter, wenn einem Schüler dazu ein abgeschlossener eigener Raum mit eigenem Computer zur Verfügung steht, als wenn sich mehrere Schüler einen Raum und einen Computer teilen müssen.
Es ist also durchaus richtig, dass vermutlich eher die sowieso schon leistungsstarken und motivierten Schüler eine längere Phase des Home-Schooling ohne größere Lücken hinter sich gebracht hätten. Das wäre aber auch im normalen Präsenz-Unterricht der Fall, wenn die Lehrer nichts dagegen unternehmen würden. Das können Lehrer deswegen tun, weil sie ihre Schüler kennen und ziemlich genau wissen, wer von ihnen mit welchen Problemen zu kämpfen hat.
Und genau deswegen hätte sich die ganze (epidemiologische) Problematik mit einer Kombination aus Home-Schooling (für die meisten Schüler) und einer Notbetreuung (für die „bedürftigen“ Schüler) vermeiden lassen. Denn die Lehrer wissen sehr genau, welche ihrer Schüler eine solche persönliche Betreuung gebraucht hätten und welche das Home-Schooling gut gemeistert hätten.
Bei den psychologischen Folgen einer eventuellen Schulschließung sieht es meines Erachtens (und ich bin da nun wirklich kein Experte) ganz ähnlich aus. Sicherlich sind soziale Kontakte und das „Freunde-Netzwerk“ für junge Menschen enorm wichtig, aber ein Schritt hin zum Home-Schooling schließt diese Kontakte ja nicht aus. In manchen Fällen ist natürlich auch das „Herauskommen aus der Familie“ wichtig, aber ein Großteil dieser Fälle ist den Lehrern ja durchaus bekannt und ließe sich mit der oben angesprochenen Notbetreuung recht gut abfedern.
Ob jetzt die psychologischen Folgen einer eventuellen Schulschließung größer wären, als es die Folgen des ständigen Hin-und-Her der Politik und der ständigen Angst vor Infektionen sind, sei hier einmal dahingestellt, weil auch dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ein paar Gedanken zum Thema finden Sie im Artikel Ein paar Worte zur Bildung in Corona-Zeiten in diesem Blog und in Tausenden von Artikel zum Thema (eine Google-Suche wie diese hilft weiter).
Warum aber reagiert die Politik so, wie sie reagiert?
Falls Sie immer noch daran glauben sollten, dass sich die beteiligten Politiker um das Wohl der Schüler Gedanken machen würden, können Sie diese Gedanken getrost beiseitelegen. Denn darum geht es nicht, jedenfalls nicht primär.
Nein, hier geht es um knallharte wirtschaftliche Interessen. Wenn Schulen geschlossen werden, können Eltern in vielen Fällen nicht arbeiten. Das ist aus wirtschaftlichen Erwägungen unerwünscht, deswegen werden die Risiken für Schüler, Eltern und Lehrpersonal bewusst in Kauf genommen.
Das könnte allerdings deutlich zu kurz gedacht sein, weil wir tatsächlich immer noch ziemlich wenig über die Folgen von Corona für jüngere Menschen wissen. Wir wissen nicht, welche Folgen diese Politik der Durchseuchung jüngerer Menschen (mehr dazu finden Sie auch im Artikel Durchseuchung – Dummheit, Arroganz oder Vorsatz?) in den folgenden Jahren haben wird. Deswegen wissen auch die Politiker letztlich nicht, welche Folgen sie mit ihrer Politik eigentlich in Kauf nehmen. Aber da einen Politiker grundsätzlich eher das „Hier und Jetzt“ interessiert als das, was in einigen Jahren passieren könnte, werden die Risiken im Zuge der Interessen-Abwägung blind in Kauf genommen.
Grob vereinfacht könnte man sagen, dass ein Wissenschaftler eher zur Vorsicht im Sinne von „Lass‘ uns vorsichtig sein, weil wir nicht wissen, was das für Folgen haben wird!“ raten würde, während ein Politiker eher zu „Komm, lass‘ uns das jetzt machen, hinterher sehen wir dann weiter!“ tendiert. Diese Entscheidungen zugunsten der Wirtschaft trifft die Politik aktuell immer noch, obwohl Erkrankungen und Todesfälle bei jüngeren Menschen die schon jetzt sichtbare Folge sind.
Weil sich die Langzeit-Risiken in der aktuellen Lage auf die Gesundheit der jüngeren Bevölkerungsschichten beziehen und weil schon jetzt jüngere Menschen erkranken und sterben, würde ich persönlich eher zur wissenschaftlichen Sichtweise tendieren. Aber ich mag mich natürlich täuschen und es mag den Preis wert sein.
Einige auf Deutschland bezogene Zahlen (die aber in den anderen europäischen Ländern ähnlich aussehen dürften) finden Sie übrigens in dieser ziemlich umfangreichen Übersicht von Isabell Stahlhut, die ich unter dem Titel Interessiert sich noch irgendjemand für die Zahlen? auch hier im Blog veröffentlicht habe.
Jüngere Menschen in der Arbeitswelt
In der Arbeitswelt stellt sich die Situation leider recht ähnlich dar, auch hier verzichtet die Politik im Sinne der Wirtschaft auf allzu starke Maßnahmen. Teilweise ist das sicherlich gerechtfertigt, weil manche Teile unserer Gesellschaft (das betrifft beispielsweise die öffentliche Sicherheit, das Gesundheitswesen und vieles mehr) ohne menschliche Präsenz einfach nicht funktionieren können.
Andererseits gibt es aber auch große Teile der Verwaltung und der Privatwirtschaft, in denen eine Pflicht zur Tele-Arbeit (zumal in den meisten europäischen Ländern, in denen eine gut ausgebaute Daten-Infrastruktur zur Verfügung steht) viele soziale Kontakte und damit viele Infektions-Ketten vermieden hätte.
Selbst wenn man darauf verzichtet hätte, dann hätte sich durch eine Verpflichtung zu Schnelltests seit Dezember (zu dem Zeitpunkt haben ausgereifte Schnelltests in großer Stückzahl zur Verfügung gestanden) die Arbeitswelt zumindest etwas sicherer gestalten lassen. Das scheint mittlerweile tatsächlich auch die Politik begriffen zu haben (oder wurde der Druck zu groß?), denn diese Tests werden jetzt (mit gut 6 Monaten Verspätung!) tatsächlich eingeführt.
Mehr über Antigen-Schnelltests und den Beitrag, den sie gerade in Schulen und in der Arbeitswelt zur Pandemie-Bekämpfung leisten können, finden Sie übrigens im Artikel Antigen-Schnelltests und die Illusion der Sicherheit hier im Blog.
Naturgemäß sind auch in der Arbeitswelt in der Hauptsache die jüngeren (und noch größtenteils ungeimpften, dazu weiter unten mehr) Teile der Bevölkerung betroffen, die von der Politik auch hier faktisch einer Durchseuchung ausgesetzt werden.
Junge Menschen und die Impfung
Irgendwann Ende letzten Jahres war klar, dass wir Impfstoffe gegen Corona bekommen würden und es war auch klar, dass diese Impfstoffe nicht sofort und in beliebiger Menge verfügbar sein würden. Folgerichtig haben die europäischen Staaten bzw. die EU (wie auch fast alle anderen Staaten weltweit) Impfstrategien ausgearbeitet, um die Verteilung der Impfstoffe zu regeln.
Das war natürlich auch völlig richtig, weil es bei der Covid-19-Erkrankung eben bestimmte Gruppen gibt, deren Risiken für einen schweren Verlauf oder das Versterben an der Erkrankung deutlich erhöht sind. Selbstverständlich sollte man Menschen mit einem Sterberisiko von 10 Prozent und mehr impfen, bevor man Bevölkerungsgruppen mit einem geringeren Sterberisiko schützt.
Aber man sollte dabei nicht vergessen, dass ein Sterberisiko von 0,5 Prozent eben immer noch bedeutet, dass 5 von 1.000 Infizierten an der Erkrankung versterben werden. Und man sollte auch nicht vergessen, dass so um die 70 dieser 1.000 Infizierten mit mehr oder minder schweren Verläufen in einem Krankenhaus landen und dort ein Bett belegen werden.
Und genau das scheint die Politik zu vergessen. Das Narrativ „Junge Menschen erkranken nicht schwer!“ scheint sich soweit durchgesetzt zu haben, dass viele Politiker mittlerweile zu glauben scheinen, dass kein junger Mensch jemals schwer an Covid-19 erkranken könne und deswegen auch keinen besonderen Schutz benötigen würde.
Liebe Politiker, das stimmt nicht! Junge Menschen können schwer an Covid-19 erkranken, sie können deswegen in eine Klinik und auf die Intensivstation kommen und sie können auch an dieser Erkrankung sterben. Ja, es wird seltener passieren, aber es wird passieren! Ihr seid also gerade dabei, mehrere Generationen völlig ungeschützt der Durchseuchung preiszugeben! Und zwar ohne dass ihr dabei genau wüsstet, was die Folgen eurer Handlungen sein werden!
Junge Menschen und die Lockerungs-Diskussion
Wir haben gerade den jüngeren Menschen in dieser Pandemie ziemlich viel abverlangt. Die Einschränkung sozialer Kontakte ist für jüngere Menschen besonders problematisch, das Hin und Her in den Schulen ist an vielen auch nicht spurlos vorbeigegangen und das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit vor diesem Virus trifft gerade die bisher wenig Grenzen kennende Jugend besonders hart.
Dazu kommen die Einschränkungen im Horesca-, Sport- und Kultur-Sektor, dessen Leidtragende sowohl psychologisch als auch wirtschaftlich überwiegend auch eher jüngere Menschen sind.
Gerade die jüngeren Menschen (oder zumindest die überwältigende Mehrheit von ihnen) haben diese Maßnahmen mit bemerkenswerter Solidarität mitgetragen.
Und wie danken wir’s ihnen?
- Indem wir Ihre Durchseuchung widerstandslos hinnehmen?
- Indem wir dafür sorgen, dass sie sich jetzt um ihre Eltern Sorgen machen müssen, nachdem ihre Großeltern außer Gefahr sind?
- Indem wir über die Aufhebung von Einschränkungen für bereits Geimpfte nachdenken, obwohl wir der jüngeren Bevölkerung nicht einmal ein Impfangebot machen konnten?
- Indem wir ihnen auf diese Weise zu verstehen geben, dass Solidarität ein ziemlich einseitiges Geschäft sein kann?
- Indem wir sie noch zusätzlichen Gefahren aussetzen, damit der bereits geimpfte Bevölkerungsteil (von dem wir nicht sicher wissen, ob er auch nach der Impfung noch infektiös ist) wieder sein normales Leben genießen kann?
Wann genau, liebe Politiker und liebe Lockerungs-Fanatiker, habt ihr eigentlich den Schuss nicht gehört?
Fazit
Die nobelste Aufgabe der Regierungen sollte es eigentlich sein, alle Menschen vor Gefahren zu schützen. Gerade in Europa, das wir ja so gerne als Wiege der Demokratie, des sozialen Miteinanders und der Solidarität sehen, sollte das eigentlich selbstverständlich sein.
Und jetzt, in dieser für alle von uns einmaligen Krisensituation, akzeptieren wir, dass sich die Regierungen von dieser Solidarität entfernen und mehrere Generationen ohne erkennbare Gegenwehr durchseuchen? Weil wir nicht geduldig genug sind, um noch ein paar Monate abzuwarten? Und wir akzeptieren, dass unsere Politiker ständig mit der Suche nach dem Weg des geringsten Widerstands und ihrer persönlichen Profilierung beschäftigt sind, anstelle sich um handfeste Lösungen der Probleme zu bemühen?
Um das an dieser Stelle noch einmal ganz klar zu sagen, ich bin kein Fan der Idee einer Technokratie. Ich war und bin immer der Meinung, dass die Wissenschaft der Politik die Fakten liefern sollte, die zur Umsetzung einer ordentlichen Politik notwendig sind.
Aber ich bin auch der Meinung, dass die Regierung die Pflicht hat, auf diese Meinung der Wissenschaft nach bestem Wissen und Gewissen zu hören und danach zu handeln. Was wir derzeit erleben, scheint eher das Handeln von Politikern auf Basis der (bestenfalls) vagen Hoffnung zu sein, dass es schon nicht so schlimm kommen werde (man bezeichnet das übrigens weniger wohlmeinend als Dunning-Kruger-Effekt, mehr darüber finden Sie in den Artikeln Dunning-Kruger und das Licht am Endes des Tunnels und Mathe für Politiker*innen in diesem Blog).
Wenn man diese Ideen grundsätzlich akzeptiert (was beileibe nicht alle tun), dann kann man am Ende nur zu dem Schluss kommen, dass in den vergangenen 6 Monaten dieser Krise nahezu alle Regierungen und Politiker nahezu jeder Couleur vollständig versagt haben.
Übrigens, um am Ende dieses Artikels doch noch einmal auf die Situation in Luxemburg zurückzukommen: Hierzulande hat die Regierung Anfang des Jahres die Entscheidung getroffen, die Inzidenz mit Blick auf die Bettenbelegung in den Kliniken bei Werten (derzeit bei Werten um 200) stabil zu halten. Das hat dazu geführt, dass immer noch rund 40 Prozent der verfügbaren Intensiv-Betten von (wohl immer jüngeren) Covid-19-Patienten belegt sind und dass seit Jahresbeginn 296 Menschen an einer Covid-19-Erkrankung verstorben sind. Durch eine striktere Eindämmung hätte wohl zumindest ein Teil davon verhindert werden können, aber offenbar scheint dieser Preis für die hiesige Regierung akzeptabel zu sein.
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