Mathe für Politiker*innen (Frau Dr. Merkel ausgenommen)
Zuletzt aktualisiert am 16. April 2021 von Claus Nehring
Diese Artikel-Serie stammt von Michael Flohr, Privatdozent am Institut für Theoretische Physik der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, und ist mit seiner freundlichen Genehmigung hier im Blog veröffentlicht worden. Sie können (und sollten) ihm auf Twitter unter https://twitter.com/Nithilher folgen. Die Original-Threads mit allen Kommentaren sind am Ende des jeweiligen Abschnitts verlinkt.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel bezieht sich auf Deutschland, er ist aber mit einigen wenigen Änderungen auch auf die Situation in Luxemburg anwendbar. Mathematische Prinzipien sind überall auf der Welt gleich und sehr berechenbar, politische Mechanismen sind sich (unglücklicherweise) weltweit ebenfalls ziemlich ähnlich und (ebenfalls unglücklicherweise) auch nicht ganz unberechenbar.
Diese Threads wurden alle durch die erschreckende Ignoranz gegenüber der Relevanz und Notwendigkeit naturwissenschaftlicher und mathematischer Bildung von Politiker*innen motiviert.
Dr. Michael Flohr zu dieser Serie auf Twitter
Definition: Wenn man es zweifelsfrei erkennt, ist es immer zu spät
Folgerung: Höre auf Expert*innen, die die mathematische Gesetzmäßigkeit zeitlicher Entwicklung kennen und vorher warnen.
Mathe ist, wenn man heute mit Daten, die nur etwas zur Realität von gestern aussagen können, wissen kann, wie es morgen sein wird.
Folgerung: Unterschätze nicht die Wichtigkeit von Mathe, die Du nicht verstehst!
Ziel: Reduktion aller Kontakte auf 25%
Schüler*innen: 10% der Bevölkerung (ca. 8 Millionen) haben täglich über Kohorte 30-120 Kontakte.
Restliche Bevölkerung: 90% der Bevölkerung haben im Mittel täglich 8-12 Kontakte.
Also hat 1/10 der Bevölkerung Pi mal Daumen über 5-mal so viele tägliche Kontakte wie der Rest.
Jetzt Prozentrechnung: das 1/10, die Schüler*innen, trägt damit 35% aller Kontakte bei.
Und wie wollt ihr jetzt auf 25% runterkommen, wenn ihr bei diesem 1/10 weiter null Kontaktreduktion betreibt?
Selbst wenn die 9/10 der Bevölkerung, die nicht Schüler*innen sind, gar keine Kontakte mehr hätten, blieben 35% übrig. Das ist mehr als 25%.
Einfache Prozentrechnung zeigt, dass euer Plan nicht funktionieren kann.
Folgerung: die Schulen unverändert im Regelbetrieb laufen zu lassen macht es mathematisch unmöglich, die Kontakte insgesamt auf 25% zu reduzieren. Selbst wenn alle anderen gar keine Kontakte mehr hätten.
a) Das Infektionsrisiko wird durch die Kombination von Maßnahmen effektiv reduziert, weil sich die zugehörigen Wahrscheinlichkeiten multiplizieren: Bestimmtes Pasch würfeln: 1/6 * 1/6 = 2.8%
Folgerung: Das Infektionsrisiko in Schulen senkt man nur durch Kombination: halbe Klassen + Masken + Lüften. Wer nur eine Maßnahme durch eine andere austauscht, macht es möglicherweise sogar schlimmer.
Denn: Man schätzt, dass sich das Infektionsrisiko um 80% reduziert, wenn alle Maske tragen. Ersetze ich die Maske durch Abstand (Halbierung der Klassen), senke ich das Infektionsrisiko nur um 60%, da Abstand allein nicht so effizient gegen Aerosole hilft. Kombiniere ich beides, bringt es viel!
Lüften bringt maximal 83%. Alle drei Maßnahmen zusammen können das Risiko auf 1.3% gegenüber dem Risiko ohne Maßnahmen drücken. Masken + Lüften gibt 3.3% und halbe Klassen + Lüften gibt nur 6.7%.
b) Eine 7-Tage Inzidenz 100 bedeutet: an jedem 1000-Personen Gymnasium ist mit 63% Wahrscheinlichkeit eine Person infiziert (bei optimistischem Dunkelziffer-Faktor von 1). Eine 7-Tage Inzidenz von 300 bedeutet: mit 95% Wahrscheinlichkeit ist jemand an der Schule, mit 25% in jeder Jahrgangskohorte infiziert.
Aber: die Gesundheitsämter kommen nicht mehr nach, die Dunkelziffer steigt.
Beispiel: Inzidenz 200 mit 5-facher Dunkelziffer: mit 99.99% Wahrscheinlichkeit eine infizierte Person pro Schule, mit 63% pro Jahrgangskohorte, mit 26% pro Klasse. Also 1/4 aller Klassen haben vermutlich eine infizierte Person.
Folgerung: wenn ich in Schulen nicht maximal für Sicherheit sorge, werden diese mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhandenen infektiösen Personen weitere infizieren. Bei hoher Inzidenz sind Schulen nicht sicher.
Können die Kultusminister*innen nun Mathe Klasse 8-10 wiederholen?
Addendum: man kann über meine Annahmen zum Nutzen der einzelnen Infektionsschutzmaßnahmen natürlich streiten. Der grundsätzliche Gedanke, dass eine Kombination möglichst vieler davon immer besser ist, wird davon nicht beeinflusst.
Addendum 2: man findet leicht Abschätzungen für die Risikominderung durch Masken oder durch Lüften, aber keine harten Zahlen für das Halbieren von Klassen.
Ich habe den Nutzen von letzterem nicht so hoch eingeschätzt, weil Abstand nicht gegen Aerosole hilft. Abstand verringert nur das Risiko durch Tröpfcheninfektion von direkten Sitznachbarn. Die Halbierung hat aber auch den Effekt, dass Aerosolkonzentration und Zahl der potentiell Infizierten niedriger sind.
Epidemiologisch gibt es noch den Vorteil kleinerer Quarantänegruppen und leichterer Kontaktverfolgung sowie geringerer Belastung des ÖPNV. Schließlich halbiert sich auch die Zeit, die jede*r Schüler*in dem Risiko ausgesetzt ist. Daher kann man vermutlich auch für eine Halbierung der Klassen eine Reduktion um 80% annehmen, wie bei Masken.
Aber richtig bleibt, dass es wenig sinnvoll ist, „entweder oder“ statt „sowohl als auch“ zu denken.
Die Kultusminister*innen wiederholen seit Monaten die Aussage „die Schulen sind sicher“. Doch diese Aussage ist nicht einfach so wahr. Die Kultusminister*innen führen als Beweis Studien an.
Doch alle diese Studien wurden zu Zeiten extrem niedriger Inzidenz gemacht. Daher können die Kultusminister*innen nur behaupten: „die Schulen sind sicher, wenn die allgemeine Inzidenz sehr niedrig ist“. Das tun sie aber nicht, was ein Fehler in der Anwendung von Logik ist.
Die Inzidenz ist mittlerweile fast überall sehr hoch. Es gibt mittlerweile Studien aus anderen Ländern bei hoher Inzidenz, die besagen, dass die Schulen dann nicht sicher sind.
Folgerung: Die Aussage „die Schulen sind sicher“ ist in Ländern mit hoher Inzidenz falsch.
Auch das beirrt die Kultusminister*innen nicht. Die logische Folgerung, was in anderen Ländern gilt, gilt bei gleichen Voraussetzungen bei uns dann auch, ignorieren sie. Das ist in etwa so, wie die Astronomen des Papstes damals Galileis Folgerung, dass die Planeten um die Sonne kreisen wie die Monde um den Jupiter, einfach nicht gelten ließen. Anders als bei Galilei ließe sich nun leicht beweisen, was stimmt. Dafür müsste man in Schulen stichprobenartig screenen. Tut man aber nicht (ehrlich) und begeht den nächsten logischen Fehler:
Die Behauptung, es gäbe kein Infektionsgeschehen innerhalb der Schulen ist nur die Feststellung fehlender Daten. Aber absence of evidence is not evidence of absence.
Folgerung: die Aussage „die Schulen sind sicher“ basiert derzeit auf keinen gesicherten Voraussetzungen.
Da, wo es mittlerweile auch in Deutschland Zahlen gibt, zeigt sich, dass die Inzidenz unter Schüler*innen und Lehrkräften deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung ist. Mehr noch: da, wo bei hoher Inzidenz Schulen geschlossen werden, geht diese zurück.
Es gibt also mittlerweile Beweise für die folgenden zwei logischen Aussagen:
- Wenn Inzidenz hoch -> Schule nicht sicher
- Wenn Schulen zu -> Inzidenz sinkt
Einzig mögliche Folgerung: „die Schulen sind nicht sicher!“
Bleibt die Frage, warum die Kultusminister*innen logisch falsch argumentieren.
- Weil sie in Mathe damals nicht aufgepasst hatten?
- Weil sie zu dumm für Logik sind?
- Weil sie, wie damals der Papst, von der neuen Realität überfordert sind, die ihre alten Konzepte sprengt?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der frühen Mathematik war, dass die Zahl Null sinnvoll und notwendig ist, um vernünftig Mathematik betreiben zu können. Die Zahl Null (0) hat zwei fundamentale Eigenschaften:
- addiert man 0 zu irgendeiner Zahl x, so ändert sich diese nicht, x + 0 = x.
- multipliziert man irgendeine Zahl x mit 0, so erhält man immer 0, x*0 = 0.
Diese beiden Eigenschaften legen 0 eindeutig fest.
Was hat das mit der Pandemie oder der Klimakrise zu tun?
Viele Entscheidungen der Politik werden mit der stillschweigenden Annahme getroffen, dass bestimmte negative Nebenwirkungen keine Rolle spielen, sozusagen 0 sind.
Bei den derzeitigen Fallzahlen von > 20.000 pro Tag, der derzeitigen Positivrate > 10% der Tests und 5 Tage, die eine infizierte Person ansteckend ist, kann man abschätzen, dass derzeit ständig mindestens 100.000 infektiöse Menschen unerkannt (Dunkelziffer) herumlaufen.
Unsere Maßnahmen schaffen es im Moment, Rt auf etwa 0,9 zu drücken. Wir bräuchten Rt <= 0,7, aber das ist das, was zur Zeit der Wert ist. Nun wird trotzdem überlegt, die Schulen teilweise wieder zu öffnen. Abschlussjahrgänge und Grundschule.
Bei einer großzügig angesetzten mittleren Schulzeit von 12 Jahren macht das mindestens 5/12 aller Schüler*innen. Die Wissenschaft schätzt ab, dass Schulschließungen Rt um mindesten 0,4 drücken. Vielleicht mehr, aber nehmen wir mal den kleinsten Wert für den Effekt.
Wenn wir Schulen also wieder teilweise öffnen, reduziert das diesen Effekt. Statt 0,4 wird er kleiner sein. Tun wir mal so, dass der Effekt nur um 0,05 geschwächt wird. Das untertreibt massiv, aber wir wollen heute großzügig sein. Das hebt Rt von 0,9 auf 0,95.
Und was heißt das? Allein in einem Bundesland wie Baden-Württemberg heißt das, dass allein aufgrund dieser Änderung ca. 700 Menschen mehr sterben werden. Ich habe das mit einer SEIR-Modellierung ausgerechnet, andere Modelle liefern etwas andere Zahlen.
Vielleicht höhere, vielleicht auch niedrigere – kommt nicht drauf an. Der entscheidende Punkt ist: kein Modell liefert 0. Eine solche Entscheidung kostet Menschenleben. Machen alle Bundesländer die Grundschulen wieder auf, müssen wir mit ca. 7.000 zusätzlichen Toten rechnen.
Wir müssen zusätzlich damit rechnen, dass sich eine Mutante wie B.1.1.7 breitmacht. Wenn wir nicht massiv Rt weiter drücken, steigt es allein deswegen über 1. Die Wissenschaft schätzt, dass die höhere Ansteckungsrate Rt um 0,4 erhöht. Sagen wir bescheiden auf 1,25.
Natürlich gibt es jetzt allein deswegen viel mehr Tote, aber eine auch nur teilweise Schulöffnung in Baden-Württemberg würde jetzt statt Rt = 1,25 nun Rt = 1,3 geben, was allein für weitere 9.800 Tote sorgen würde. Bundesweit also ca. 98.000 zusätzliche Tote. Wohlgemerkt, das sind die Toten, die zusätzlich allein nur deswegen sterben, weil Rt um 0,05 erhöht wurde. Die Erhöhung um knapp 0,4 durch die Mutation würde, ohne Gegenmaßnahmen zu mehr als 300.000 zusätzlichen Toten in Deutschland führen. Warum schreibe ich das?
Weil politische Entscheidungen Konsequenzen haben, die nicht null sind. Natürlich kann man diskutieren, ob das Recht auf Bildung für Millionen Schüler*innen eine bestimmte Zahl von Toten wert ist. Aber man muss dann hieb- und stichfest begründen, dass dieses Recht auf Bildung nicht für den Großteil der Schüler*innen auch anders, mit weniger Toten, gesichert werden kann. Man muss hieb- und stichfest begründen, warum die RKI-Vorgaben nicht durchführbar sind, die die Zahl der Toten zumindest erheblich reduzieren würde.
Man muss hieb- und stichfest begründen, dass deutlich mehr Kinder sonst und nur deswegen den Anschluss an Bildung verlieren würden, als Kinder eine*n Angehörige*n, und dass es das wert ist. All diese Effekte sind nicht null. Und man muss sich im Klaren sein, was der Effekt ist, wenn man eine solche Rt + 0,05 Lockerungsentscheidung trifft, wenn die Infektionslage unbemerkt bereits durch eine sich ausbreitende Mutation ohnehin Rt über 1 gebracht hat.
Man muss hieb- und stichfest begründen, dass man dieses Risiko in Kauf nimmt, und dass ein paar zusätzliche Wochen ohne teilweise Schulöffnung bereits einen so großen Schaden anrichten würden, dass das Risiko sehr vieler zusätzlicher Toter gerechtfertigt ist.
Stattdessen hören wir aber immer nur beschwichtigende aber falsche Aussagen dazu, dass Schulen praktisch keinen nennenswerten Einfluss auf die Pandemie haben. Die Kultusminister*innen pflegen seit Monaten eine Propaganda, die von diesen Tatsachen ablenkt, und suggeriert, dass der Effekt von ein bisschen Schulöffnung eigentlich null ist. Das ist doppelt verantwortungslos.
Es verharmlost die Situation in der Wahrnehmung vieler Bürger*innen, und die Kultusminister entledigen sich damit zu einem guten Teil der Pflicht, für diese Entscheidungen vollständig auch die Verantwortung zu übernehmen.
Die gleiche Diskussion lässt sich natürlich für jede andere Maßnahme führen, bei der eine Lockerung mit Rt + 0,0x für „null“ schmackhaft gemacht wird, die es aber nicht für „null“ gibt. Jede Erhöhung von Rt, egal wie klein, kostet Menschenleben. 0,0x ist eben nicht 0. Darum endlich #zerocovid, die echte Null.
Nachtrag: Wer selber rechnen will: ich gebe ungefähre Zahlen an, die sich ergeben, wenn man Rt geringfügig erhöht, und dann erstmal keine weiteren Änderungen an Rt passieren, also es zu keinen erneuten Einschränkungen kommt.
Einen SEIR-Modellierer zum selber Spielen gibt es hier:
Und hier findet man Modellierungen, bei denen die Daten für einzelne Länder aus einer Liste direkt gewählt werden können:
Nochmal: eine Modellierung sagt nicht die Zukunft voraus. Aber sie kann klar aufzeigen, dass Änderungen der Parameter Effekte haben. In der Größe des Effektes mögen sie (teils drastisch) falsch liegen, aber diese Effekte sind Wirkungen von Ursachen, die niemals null sind.
Ein großes Bildungsdefizit ist, dass die meisten Menschen die Rolle von Mathematik in den Wissenschaften und damit für unser Verständnis von Realität nicht verstehen.
Schon vor tausenden Jahren haben Menschen Mathematik verwendet, um den Lauf der Sterne vorherzusagen, wann es Mond- und Sonnenfinsternisse gibt. Mathematik war ein Instrument der Macht, zum Beispiel von Hohepriestern, die ihr Wissen über die nächste Sonnenfinsternis nutzten.
Lange war der Zugang zu Bildung der herrschenden politischen Klasse vorbehalten. In Demokratien ist dies durchaus anders. Allerdings beobachten wir hierbei gleichzeitig einen erschreckenden Verlust des Wertes, den Wissenschaft in der Politik hat.
Wissenschaften verwenden Mathematik zur Formulierung von Gesetzen, nach denen sich aus einer mehr oder weniger vollständigen Beschreibung des beobachteten Zustandes der Realität eine Prognose über die zukünftige Entwicklung der Realität erstellen lässt.
Diese Gesetze sind nicht verhandelbar. Sie fußen auf immer und immer wieder überprüften Beobachtungen und der unbeugsamen inneren Logik von Mathematik. Warum das so ist, können wir Menschen nicht ergründen. Aber es ist sinnlos, dies nicht zu akzeptieren.
Ein Apfel, den ich loslasse, wird mit absoluter Sicherheit zu Boden fallen. Dieses Gesetz kann nicht gebeugt, nicht umgangen werden. Bei anderen Vorhersagen ist das Resultat nicht 100% sicher, weil die Ausgangslage nur unvollständig bekannt ist. Das Wetter ist ein gutes Beispiel.
Bei der #Pandemie und der #Klimakrise haben wir die Situation, dass die Wissenschaft ziemlich genau vorhersagen kann, was passieren wird, wenn wir nicht gegensteuern. Aber hier zeigt sich das erste große Missverständnis, das Politik heute mit Wissenschaft hat.
Denn eine Prognose, die sagt „mit 60% Wahrscheinlichkeit haben wir Ende Mai 30.000 weitere Tote“ heißt nicht, dass wir mit 40% Wahrscheinlichkeit keine weiteren Toten haben werden, sondern das es vielleicht 20.000 oder 50.000 werden. Genauso ist es mit den Angaben zum Temperaturanstieg beim Klimawandel.
Es ist Illusion, bei Prognosen darauf zu bauen, dass es ganz anders kommen könnte. Es kommt vermutlich ein wenig anders, aber dass es ganz anders kommt, ist beliebig unwahrscheinlich. Denn die mathematischen Gesetzmäßigkeiten sind unerbittlich, unsere Datenlage gut genug.
Damit tut sich die Politik allerdings unendlich schwer. Die Politik ist in einem für sie nicht auflösbaren Dilemma gefangen. Meistens setzt sie sich mit Dingen auseinander, bei denen sie Spielraum hat und bei denen verschiedene politische Ideen gleichberechtigt um Deutungshoheit ringen. Vor allem und gerade in einer Demokratie.
Die Pandemie, und genauso die Klimakrise, konfrontieren die Politik mit Dingen, bei denen der Handlungsspielraum, wenn man die wissenschaftlich erhobene Faktenlage und die wissenschaftlichen Prognosen daraus zugrunde legt, praktisch null ist. Auch gibt es keine echte Deutungshoheit, es sei denn, man stimmt der wissenschaftlichen Sicht zu, oder man stellt sich ihr leugnend entgegen.
Das ist für Politiker*innen ein echtes Problem. Es berührt den Kern ihres Selbstverständnisses, dass sie es sind, die gestaltend Macht ausüben. Wer Vollblut-Politiker*in ist, erlebt das als einen Angriff der Wissenschaft auf ihren/seinen Machtanspruch.
Ich glaube, dass wir deshalb so viele Politiker*innen erleben, die geradezu getrieben sind, entgegen der wissenschaftsbasierten Vorschläge zu agieren, weil sie es für sich persönlich nicht ertragen können, dass Wissenschaft, und letztlich die Natur selbst, ihnen eigentlich vorschreibt, was die einzig vernünftige Handlungsweise ist. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sich vor allem Ministerpräsident*innen und Kultusminister*innen in letzter Zeit mehr wie Feudalherren aufführen, die in vollem Vorsatz in gefährdender Weise über ihr jeweiliges Landesvolk verfügen.
Hinzu kommt, dass Politiker*innen etablierte Gestaltungsprozesse haben, in denen von Wissenschaft und Naturgesetze diktierte Sachzwänge nicht vorgesehen sind. Dort geht es um Interessenausgleich, vor allem mit Lobby-Gruppen.
Bei dieser Art des Schachspiels wissen Politiker*innen einfach nicht, wie sie unabänderliche Sachzwänge mitberücksichtigen sollen. Im Grunde sind sie da völlig ziel- und planlos. Was sie natürlich kaschieren müssen.
Und dann kommt so was heraus wie Herr Altmeier, der genau weiß, dass er gegen jede Vernunft sachlich gesehen Unsinn redet, aber gefangen ist in seinen rein politischen Denkstrukturen, in denen es allein darum geht, den Interessenausgleich unter den Lobby-Gruppen zu finden, der den eigenen politischen Zielen am meisten nützt. Er spürt die kognitive Dissonanz, aber könnte nur etwas daran ändern, wenn er bereit wäre, auf einen Teil des Gefühls, Macht zu haben, bewusst zu verzichten.
Das aber geht nicht, denn fast alle Politiker*innen sind süchtig nach diesem Gefühl. Das wissen sie auch. Und deshalb agieren sie sichtbar verlogen. Sie können diese selbst wahrgenommene Dissonanz nicht vollständig verbergen.
Ich fürchte jedenfalls, dass das politische System derzeit so funktioniert, dass es im Grunde unfähig ist, mit Phänomenen umzugehen, die ausschließlich mit wissenschaftlichen Methoden bewältigt werden können. Unser politisches System ist intrinsisch unwissenschaftlich.
Addendum: zwar auf Englisch, aber ein sehr lesenswertes Essay über die Rolle der Mathematik in den Wissenschaften, von einer der ganz großen Persönlichkeiten der Wissenschaft, Eugene Wigner:
Übungsaufgabe: Diskutiere, wie Politik den Diskurs versucht zu verschieben, weg von wissenschaftlich beweisbaren Sachzwängen auf „weiche“ Themen (harte Fakten zugunsten von Meinungsfragen ignorieren), und wie hier sogar ethische Fragen pseudowissenschaftlich eingesetzt werden.
Exponentielle zeitliche Entwicklungen sind durch die Eigenschaft charakterisiert, dass, wenn man sie zweifelsfrei feststellen kann, es immer zu spät ist. #B117 ist exponentiell.
Diese Woche hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie unberechenbar diese Pandemie wirklich ist.
Jens Spahn auf der Pressekonferenz am 19.3.2021
Daraus kann man nur schließen, dass Herr Spahn nichts von Wissenschaft versteht oder hält.
Die Pandemie ist sogar extrem gut berechenbar. So gut, dass das, was diese Woche passierte, absolut exakt genau das ist, was Wissenschaftler*innen schon vor Wochen berechnet hatten.
Das liegt daran, dass wir es mit großen Zahlen zu tun haben. Millionen von Menschen, deren individuelles Verhalten sich in der Masse zu stabilen Pfaden mittelt. Milliarden von Viren, die jeder einzelne Infizierte produziert. Wissenschaftler*innen können dies alles in mathematische Formeln gießen, die es ihnen erlauben, mit ziemlich hoher Zuverlässigkeit zu berechnen, wie sich die Pandemie von einer bekannten Situation am Tag X aus in Zukunft entwickeln wird. Zuvor haben sie die Situation an den Tagen bis X genau gemessen.
Dafür sind ja alle die Daten da: Inzidenzwerte, Anzahl der Neuinfektionen, der Hospitalisierten, derjenigen auf ITS, der Gestorbenen, aber auch Daten zum Mobilitätsverhalten, zur Maßnahmen-Compliance, zum Wetter, zum Stimmungsbild in der Bevölkerung, zum Pollenflug usw.
Seit Beginn der Pandemie bestätigt sich immer und immer wieder: die Pandemie ist extrem gut berechenbar. Sie folgt den mathematischen Gesetzmäßigkeiten mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks.
Alles gut berechenbar? Nein, nicht ganz. Eine kleine Gruppe von Menschen leistet erbittert der Berechenbarkeit Widerstand: die Politiker*innen. Sie treffen Entscheidungen, die all die Prognosen ständig über den Haufen werfen, ständig schlimmere Prognosen nötig machen.
Denn anders als das individuelle Verhalten der 83 Millionen Bundesbürger*innen, das sich im statistischen Rauschen zum Mainstream hin vermischt, haben die Entscheidungen der Politiker*innen einen gigantischen Einfluss auf die zeitliche Entwicklung der Pandemie. #GenugJetzt
Es sind Entscheidungen von einigen wenigen Politiker*innen auf Bundes- und Landesebene, die den Wissenschaftler*innen jedes Mal einen Strich durch die Rechnung machen. Leider oft nicht den gewünschten. Statt durch Entscheidungen die Pandemie zu kontrollieren (#YesToNoCovid), werden Entscheidungen getroffen, die das alltägliche Leben von Millionen Bürger*innen so beeinflussen, das die Kontrolle der Pandemie auf berechenbare Weise abhandenkommt.
Weil diese Entscheidungen irrational sind. Weil diese Entscheidungen das, was die Wissenschaft zuvor berechnet hat, einfach ignoriert. Weil bei diesen Entscheidungen jedes Mal wieder das Argument fällt, dass man ja nicht wissen könne, ob sich das alles tatsächlich so entwickeln würde.
Doch, kann man. Dazu genau ist Wissenschaft da. All das ist präzise berechenbar.
Wissenschaft hat keine Glaskugel, sie kann nicht voraussehen, wie sich die Politiker*innen entscheiden werden. Darum berechnet sie verschiedene Szenarien. Wenn die Politik Möglichkeit A entscheidet, dann so, wenn B dann so usw. Ein aktuelles Beispiel:
Oder Wissenschaft macht Annahmen, dass die Politik halbwegs rational und im Sinne der Menschen entscheidet, wie z.B. hier:
Doch genau diese eine Annahme führt die Politik seit Monaten immer wieder ad absurdum. #esReichtJetzt
Die Pandemie ist berechenbar. Sogar das Virus und sein Evolutionsverhalten sind berechenbar. Einzig die Politik ist es nicht. Richtig muss es also heißen:
„Diese Woche hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie unberechenbar diese Politik wirklich ist.“
Wir hätten längst das Virus im Griff haben können, wenn im Frühsommer 2020 nicht entgegen dem Rat der Wissenschaft 14 Tage zu früh gelockert worden wäre – entschieden durch die Politik. #NoCovid wurde verpasst.
Wir hätten die zweite Welle abwenden können, wenn nicht gegen den Rat der Wissenschaft 14 Tage zu spät gebremst worden wäre – entschieden durch die Politik, später weiter verwässert durch die Landespolitik. #NoCovid wurde von der Politik als seltsame Utopie diskreditiert.
Wir erleben in den nächsten Wochen eine dritte Welle, weil gegen den Rat der Wissenschaft voreilig gelockert und wieder zu spät gebremst wurde bzw. wird, und weil gegen den Rat der Wissenschaft die Kultusminister ungehindert ihrer Obsession des heiligen Präsenzunterrichts huldigen dürfen.
Dabei findet der Beginn der dritten Welle unwiderlegbar genau dort statt: in Schulen & Kitas.
Die Politik fährt den Karren in den Dreck und verlässt sich dann per Impfstoff und Schnell-/Selbsttests darauf, dass wissenschaftliche Erkenntnisse helfen, ihn wieder rauszuziehen.
Die Wissenschaft und ihre technologischen Produkte sollen es richten, aber die notwendigen Rahmenbedingungen schafft die Politik nicht, obwohl absehbarer Bedarf leicht berechenbar ist.
Um die Pandemie zu kontrollieren, wird ausreichend Impfstoff benötigt, ausreichend Tests, ausreichend Masken usw., doch für nichts davon wurde rechtzeitig vorgesorgt: keine Fabriken für Impfstoff, für Tests, für Masken wurden in Deutschland errichtet, schon gar nicht vorab. Nicht mal die Digitalisierung der Gesundheitsämter klappt, geschweige denn deren Anbindung an die Corona-Warn-App und Luca.
Dabei ist z.B. klar berechenbar, wie viel Impfstoff benötigt wird, und wie schnell man impfen muss, um schlimmere Mutationen und Varianten des Virus zu verhindern. Nicht berechenbar war das Versagen der Politik in diesen rein logistischen Dingen.
Daher noch mal zum Mitschreiben für alle Politiker*innen: wenn in der Beschlussvorlage der kommenden Ministerpräsidenten-Konferenz steht, dass Schulen mit Tests (im Klassenraum?, alle dann Maske ab?) bis Inzidenz 200 offen bleiben können, dann ist sehr leicht berechenbar, dass dies nicht gut gehen wird. Außer viele zusätzliche Tote und Menschen mit #LongCovid und #LongCovidKids sind einem einfach egal. Auch berechenbar ist, dass #B117 aus den Schulen in die Familien kommen wird, es ist sogar schon messbar:
Ist ein Kind infiziert, dann erwischt es mit 95% Wahrscheinlichkeit die ganze Familie.
Also, hören Sie auf, immer wieder zu behaupten, die Entwicklung wäre nicht berechenbar. Das ist eine Lüge.
Und machen sie es #einmalrichtig: #VollbremsungJETZT mit #SchulenUndKitasZu
Die Pandemie ist berechenbar. Das Virus ist berechenbar. Der Mensch in der Masse ist statistisch berechenbar. Die Politik der gewählten Entscheidungsträger*innen muss dies akzeptieren und entsprechend handeln. Zum Wohle des ganzen Volkes. Davon ist derzeit nichts zu sehen.
Addendum: Berechenbar ist auch, welche bitteren Konsequenzen es hat, wenn man zu früh lockert, oder zu spät bremst. Für einen einfachen Überschlag bei unserem derzeitigen Infektionsgeschehen genügen einfache Grundrechenarten. Zum Beispiel:
Addendum 2: damit nicht immer nur die Politik eins abkriegt: wenn Gerichte Demonstrationen von Querdenkern genehmigen und/oder Polizei diese bei Missachten von Auflagen nicht sofort und konsequent auflösen, erzeugt dies berechenbar Größenordnung von 10.000 zusätzlichen Infektionen.
Und das hat weitere messbare Konsequenzen. Auch hier haben Entscheidungen und Handlungen von wenigen und von Minderheiten überproportional große Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Stichwort Verhältnismäßigkeit:
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