Durchseuchung – Dummheit, Arroganz oder Vorsatz?
Zuletzt aktualisiert am 10. Mai 2021 von Claus Nehring
Dies ist eigentlich ein Jubiläums-Artikel, heute vor genau einem Jahr habe ich hier im Blog unter dem Titel Das Problem mit den Corona-Tests den ersten Artikel zur Corona-Pandemie veröffentlicht. Mir ist damals nach Gesprächen mit befreundeten Wissenschaftlern klargeworden, dass hier das erste Mal seit der Spanischen Grippe ein Virus mit dem Potential für eine wirklich weltumspannende Pandemie aufgetaucht sein könnte, und dass dieses neue Corona-Virus nur sehr schwer einzudämmen sein würde. Und nachdem ich mich seit rund 30 Jahren immer wieder mit Infektions-Krankheiten beschäftigt und viele Artikel darüber geschrieben habe, dachte ich damals, ich könnte vielleicht etwas zum besseren Verständnis beitragen.
Nach den doch sehr positiven Reaktionen auf meine ersten Artikel habe ich damals beschlossen, diese Arbeit fortzuführen. Mittlerweile sind 90 Artikel zum Thema (zum Teil auch von Gastautoren) bei mir im Blog erschienen, die bisher knapp 260.000 Leser (davon knapp 70.000 aus Luxemburg) gefunden haben. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sehr herzlich bedanken.
Damals, als ich meinen ersten Artikel über Corona geschrieben habe, war ich von zwei Dingen überzeugt. Zum einen davon, dass uns dieses neue SARS-CoV-2-Virus sehr lange beschäftigen würde. Und zum zweiten davon, dass in dieser brandgefährlichen Situation Politik und Wissenschaft zusammenarbeiten würden, um die Folgen dieser Pandemie so klein wie möglich zu halten.
Beim ersten Punkt hatte ich recht, das SARS-CoV-2-Virus ist mit den zum Ende des letzten Jahres aufgetauchten Mutanten sogar noch gefährlicher geworden. Andererseits haben wir mit den Impfstoffen eine Waffe dagegen gefunden, die ich persönlich weder so schnell noch so wirksam erwartet hätte (meine damalige Meinung dazu Impfstoffe können Sie übrigens bei Interesse in diesem Artikel vom 17. Juni 2020 nachlesen).
Beim zweiten Punkt habe ich mich leider fürchterlich getäuscht. Die Politik (und auch Teile der Gesellschaft) hat sich offenbar darauf verlassen, dass die Hauptgefahr durch das SARS-CoV-2-Virus nach dem letzten Sommer mit seinem recht geringen Infektions-Geschehen vorbei sei und dass die Impfstoffe das Problem schnell beseitigen würden. Die Warnungen der Wissenschaftler vor einer zweiten Welle im Herbst wurden ebenso ignoriert wie die Warnungen vor der Gefährlichkeit der neu aufgetauchten SARS-CoV-2-Mutanten Ende letzten Jahres.
Besonders tragisch ist dabei, dass die Politik die Rolle von jüngeren Menschen in der Pandemie bis heute entweder nicht begriffen hat oder dieses Wissen schlicht ignoriert. Denn gerade die SARS-CoV-2-Mutanten (besonders B.1.1.7) sorgen derzeit dafür, dass sich Krankenhäuser und Intensiv-Stationen in ganz Europa mit jüngeren Patienten füllen (Quellen dazu gibt es haufenweise, eine Google-Suche genügt).
Und deswegen ist dies leider nicht der optimistische und positive Jubiläums-Artikel geworden, den ich heute eigentlich gerne geschrieben hätte. Stattdessen möchte ich heute über das völlige Versagen der Regierungen in mehreren europäischen Ländern (darunter auch Luxemburg) schreiben, die offenbar irgendwann im Herbst letzten Jahres beschlossen haben, den Pfad der evidenzbasierten Entscheidungen zu verlassen und stattdessen auf die Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung zu setzen.
Zunächst einmal: ich glaube nicht, dass sich die europäischen Regierungen die Umsetzung der unsäglichen Great-Barrington-Declaration des letzten Jahres (mehr dazu finden Sie im Artikel Natürliche Durchseuchung führt zu gezielter Ausgrenzung in diesem Blog) zum Ziel gesetzt haben. Schon alleine deswegen, weil eine solche Handlungsweise irgendein Konzept voraussetzen würde.
Allerdings glaube ich, und das ist eigentlich noch viel schlimmer, dass unsere Politiker den Einfluss der seit Ende letzten Jahres umlaufenden SARS-CoV-2-Mutanten sträflich unterschätzt haben und sich jetzt kollektiv weigern, die von ihnen gemachten Fehler einzugestehen und zu korrigieren.
Auf die möglichen Gründe für diese Unterschätzung der Gefahren und der damit einhergehenden Überschätzung der eigenen Kompetenzen möchte ich hier eher nicht eingehen (weil dazu einige Kraftausdrücke nötig wären, auf die ich in meinen Artikeln verzichten möchte). Außerdem haben Sie, liebe Leserin und lieber Leser, vermutlich bereits eigene Thesen zu diesem Punkt. Sollte dem nicht so sein, darf ich Ihnen die Artikel Mathe für Politiker*innen (Frau Dr. Merkel ausgenommen) von Michael Flohr und Ein Blick in eine positive Corona-Zukunft von mir ans Herz legen, denen Sie einige mögliche Gründe entnehmen können.
Nun aber zum eigentlichen Problem, dass ich Ihnen hier am Beispiel meiner Wahl-Heimat Luxemburg schildern möchte. Die zugrundeliegenden Mechanismen sind überall ziemlich ähnlich, Sie können also bei Bedarf die genannten Organisationen und Personen gegen die Äquivalente in Ihrem jeweiligen Heimatland austauschen.
Die Ausgangs-Situation
In Luxemburg wurden am 11. Januar 2021 die Schulen wieder geöffnet, zunächst mit dem Credo „In den Schulen steckt sich niemand an“, später dann, als dieses Argument beim besten Willen nicht mehr haltbar war, mit der Aussage „mit bis zu 300 Neu-Infektionen pro Woche in den Bildungseinrichtungen bleibt das Infektions-Geschehen kontrollierbar“. Ich habe dieses Geschehen bereits im Artikel Macht bitte endlich die Schulen zu – und dann wieder auf – ein Lagebericht aufgearbeitet und möchte deswegen nicht noch einmal darauf eingehen.
Zu diesem Zeitpunkt war längst bekannt, dass Kinder und damit auch die entsprechenden Bildungs- und Betreuungs-Einrichtungen am Infektions-Geschehen beteiligt sind und zur weitflächigen Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus in die Familien hinein entscheidend beitragen. Gerade in Großbritannien gab es zu diesem Zeitpunkt bereits sehr gute Studien zum Einfluss der B.1.1.7-Mutante, die britische Epidemiologin Deepti Gurdasani hat das beispielsweise bereits am 5. Januar 2021 im Artikel Kinder haben schon immer zum Infektions-Geschehen beigetragen erklärt.
Wir wissen hierzulande übrigens spätestens (das Gesundheitsministerium dürfte es früher gewusst haben) seit dem 3. Januar 2021, dass die B.1.1.7-Mutante im Umlauf ist, von der B.1.351-Mutante ist das spätestens seit dem 28. Januar bekannt.
Der Wissenschaft war zu dem Zeitpunkt längst klar, was für Folgen das Auftauchen dieser Mutante in Europa nach sich ziehen würde, nur die Politik hat es wieder einmal nicht geglaubt und nicht dementsprechend gehandelt.
There is no excuse in a few weeks or months from now to claim that this was unexpected, could not have been foreseen or prevented. All the necessary information & urgent steps to take are on the table. The time to act is now.
Isabella Eckerle auf Twitter am 30. Dezember 2020
Die Politik ist zum Problem geworden
Das Mantra „Schulen sind keine Treiber dieser Pandemie“ ist augenscheinlich so oft wiederholt worden, dass viele Politiker im Kopf daraus „die Öffnung der Schulen ändert nichts am Infektions-Geschehen“ gemacht habe. Leider sind aber beide Aussagen nie so ganz richtig gewesen, spätestens mit der Verbreitung der hochinfektiösen Mutanten sind sie grundfalsch.
Denn diese Mutanten verbreiten sich erheblich stärker in der jüngeren Bevölkerung. Jüngere Menschen haben zwar meist einen eher milden Verlauf der Covid-19-Erkrankung, aber sie können das Virus genauso gut wie Erwachsene weitergeben. Und dadurch sind alle Orte, an denen jüngere Menschen in größeren Gruppen über einen längeren Zeitraum zusammen sind, auf einmal in noch weitaus höherem Maße als vorher zu Multiplikatoren (oder eben „Treibern“) dieser Pandemie geworden.
Die Wissenschaft hat vorausgesagt, dass die Öffnung der Schulen zu einer weiten Verbreitung der infektiöseren Mutanten (in Europa sind das B.1.1.7 und in geringerem Maße B.1.351 und P.1) in die Familien hinein führen würde. Und genau das ist passiert. Die Virologin Melanie Brinkmann hat das in einem Interview im Spiegel im Rahmen einer Vorstellung der No-Covid-Strategie mit deutlichen Worten eingeordnet:
Unser größtes Problem ist, dass einige aus der Politik zuerst mal sehen wollen, ob es wirklich so schlimm kommt wie vorhergesagt.
Melanie Brinkmann in einem Spiegel-Interview vom 5. Februar 2021
Man mag das, so wie viele andere Äußerungen anderer Wissenschaftler in letzter Zeit, als genervten Aufschrei einer nicht gehörten Wissenschaftlerin einschätzen. Genau das tut die Politik derzeit und blendet dabei aus, dass die Wissenschaft nur Folgen und Konzepte zur Vermeidung ebendieser Folgen vorlegen kann und sollte. Manche mögen von der Meinung der Wissenschaft nichts mehr hören wollen, aber als verantwortungsbewusster Politiker mit Verantwortung für Menschenleben sollte man sie nicht einfach so ignorieren.
Die Folge ist eine Politik, die die Folgen des eigenen Handelns konsequent ausblendet und zu allem Überfluss die sinkende Zustimmung zu dieser „Augenblicks-Politik“ recht eindimensional als „Wunsch nach Lockerungen“ fehlinterpretiert. Gleichzeitig werden (weil’s nun mal so schön ins Konzept passt) die psychologischen Folgen einer Schulschließung für Kinder und Jugendliche als gravierender als der Einfluss der Pandemie auf die Gesundheit der gesamten Bevölkerung dargestellt.
Warum ist das so tragisch?
Die offensichtlichen Folgen dieser Politik in Form einer sehr schnellen Verbreitung der hochinfektiösen („britischen“) B.1.1.7-, der („südafrikanischen“) B.1.351- und der („brasilianischen“) P.1-Mutante sind schon tragisch genug, weil alleine das bereits ausreicht, um die Wochen-Inzidenzen in vielen Ländern Europas zum Explodieren zu bringen.
Anmerkung: Diese Entwicklung wäre übrigens in jedem Fall eingetreten, weil sich „fittere“ Mutanten in einer Pandemie nun einmal durchsetzen. Aber es hätte ohne die unnötigen und überstürzten Öffnungen deutlich länger gedauert. In dieser Zeit wären immer mehr Menschen geimpft worden und hätten die Ausbreitung noch einmal verlangsamt.
Aber das ist noch nicht einmal das eigentlich Schlimme. Das eigentlich Schlimme ist, dass wir den jüngeren Teil unserer Bevölkerung ganz bewusst mit einer Virus-Erkrankung durchseuchen, deren Folgen wir nicht einmal annähernd kennen. Wir erkennen erste Langzeitfolgen und fassen Sie unter dem Begriff Long-Covid zusammen, ich habe die wenigen Kenntnisse dazu im Artikel Long-Covid und was wir darüber wissen zusammengefasst.
Und das ist noch längst nicht alles, viele Folgen einer Covid-19-Erkrankung werden wir möglicherweise erst in einigen Jahren erkennen. Auf LANCET wurde gerade eine Studie aus den USA veröffentlicht, die bei einem Drittel von knapp 240.000 Covid-19-Erkrankten nach 6 Monaten neurologische und/oder psychiatrische Probleme festgestellt hat (hauptsächlich Stimmungs- und Angststörungen). Aus England kommt eine andere Studie, die bei einem von sieben Covid-19-Patienten Langzeitfolgen gefunden hat, wobei Berufstätige stärker als Rentner betroffen waren.
Ist das repräsentativ? Was könnte uns da noch erwarten? Wie lange hält das an? Wie schwer sind die Folgen? Wir wissen es nicht!
Hinzu kommt noch ein weiteres Problem, das in der Interpretation der Wochen-Inzidenz liegt. Denn eine Wochen-Inzidenz pro 100.000 Einwohner von 200 in der jetzigen Situation ist nicht das gleiche wie eine ebenso hohe Wochen-Inzidenz in der zweiten Welle vor Weihnachten. Das liegt daran, dass sich die Infektionen jetzt in einer anderen (jüngeren) Bevölkerungsgruppe abspielen (was teilweise am Impffortschritt bei den Älteren und teilweise an der Verbreitung der infektiöseren Mutanten liegt).
Aus epidemiologischer Sicht sind nun aber dummerweise hohe Inzidenzen in den jüngeren Altersgruppen bedeutsamer, weil diese Altersgruppen im Allgemeinen mehr soziale Kontakte als alte Menschen haben. Und mit einer Zunahme der sozialen Kontakte erhöhen sich ganz automatisch auch die Chancen für eine Weitergabe des Virus.
Diese Ansteckungen erfolgen normalerweise hauptsächlich in derselben Altersgruppe (weil die meisten sozialen Kontakte in der gleichen Altersgruppe stattfinden). Aber hier gibt es eine in unserer jetzigen Situation sehr wichtige Ausnahme, nämlich die hohen Infektionsraten bei Kindern und Jugendlichen. Und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, dass diese Kinder und Jugendlichen im Allgemeinen bei ihren Eltern wohnen und enge soziale Kontakte mit diesen haben.
Zur B.1.1.7-Mutante gibt es dazu eine aktuelle Studie aus Norwegen, die für diese Mutante eine um 60% höhere Wahrscheinlichkeit für die Übertragung innerhalb von Haushalten nahelegt. Das wiederum bedeutet, dass wir mit unserer derzeitigen Politik der Durchseuchung in den Schulen die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen gleich mit durchseuchen (man sollte die Wirtschaft und die Politik an dieser Stelle vielleicht daran erinnern, dass diese Eltern für das Funktionieren der Unternehmen, der Verwaltungen und des Bildungswesens nicht ganz unwichtig sind).
Lassen Sie mich noch einmal kurz zusammenfassen, warum die derzeitige Durchseuchungs-Politik vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist:
- Wir kennen die Langzeit-Folgen einer Covid-19-Erkrankung nicht genau, aber sie könnten ziemlich ernst sein und sie könnten durchaus ein Drittel der Infizierten (auch der jüngeren) betreffen.
- Wir könnten unser Gesundheits-System ziemlich schnell überlasten (in Deutschland, Frankreich und Belgien passiert das gerade), wenn wir unsere Inzidenz nicht schleunigst in den Griff bekommen.
- Da wir bei dieser Pandemie-Welle eher jüngere Menschen in den Kliniken und auf den Intensiv-Stationen sehen werden (und es wird auch in diesen Altersgruppen zu Todesfällen kommen) könnten wir Wirtschaft, Verwaltung und Bildungswesen durch den (möglicherweise langfristigen) Wegfall dieser Arbeitskräfte erheblich schädigen.
- Wir werden in eine Spirale immer höherer Inzidenzen hineingeraten. Das kann sich langsam aufbauen, es kann aber auch zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach explodieren (der Begriff „exponentielle Steigerung“ verharmlost etwas, finde ich). Weil das immer so schön abstrakt klingt, hier ein etwas reelleres Beispiel: von den 1.290 Neu-Infizierten der letzten 7 Tage (Stand: 10.04.2021) werden in ein paar Wochen um die 70 im Krankenhaus liegen, ungefähr 15 werden sterben und mehr als 400 riskieren langandauernde Beschwerden.
Und das kann jeden treffen! Womit sich die Frage stellt, ob langanhaltende Krankheiten und/oder Todesfälle in der eigenen Familie für Kinder und Jugendliche nicht möglicherweise psychologisch belastender sind, als eine gewisse Zeit auf den Präsenz-Unterricht verzichten zu müssen (mehr dazu übrigens auch im Artikel Ein paar Worte zur Bildung in Corona-Zeiten vom 12. Februar 2021).
Zu diesem Thema erreichten mich auf Twitter einige Anmerkungen einer deutschen Psychotherapeutin (@ardnula), die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte und deswegen noch nachträglich hier verlinkt habe.
Die Durchseuchungs-Kampagne geht weiter
Nicht, dass das die luxemburgische Regierung groß beeindrucken würde, man bleibt hier bei Mär von der stabilen Infektions-Lage. Warum das eine Mär ist und das Infektions-Geschehen tatsächlich zu einem Großteil in den Bildungseinrichtungen stattfindet, können Sie der nachfolgenden Tabelle entnehmen.
Ich möchte diese Tabelle hier nicht groß analysieren, die Zahlen sprechen meiner Meinung nach für sich. Deswegen an dieser Stelle nur ein paar Hinweise dazu, die die Einordnung erleichtern:
- Zwischen dem 11. Januar und dem 6. April 2021 hat sich an den Eindämmungs-Maßnahmen nichts Nennenswertes geändert. Seit dem 11. Januar sind Geschäfte und Kultureinrichtungen (Theater, Kinos etc.) unter strengen Hygiene-Regeln geöffnet, die Arbeitswelt funktioniert schon seit Monaten mit denselben (und relativ laschen) Regeln.
- Wenn man davon ausgeht, dass die Öffnungen im Einzelhandel und in den Kultureinrichtungen dank der Hygienemaßnahmen für relativ wenig Änderungen im Infektions-Geschehen gesorgt haben, bleiben als „Multiplikator“ für die Pandemie eigentlich nur noch die Bildungseinrichtungen übrig.
Und was tut unser hochgeschätztes Bildungsministerium in seiner ganzen Ignoranz dagegen? Sie ahnen es möglicherweise bereits, es tut nichts. Absolut nichts. Man hat offenbar beschlossen, die Bildungseinrichtungen auch nach den Osterferien wieder zu öffnen. Dabei möchte man die Sicherheit gewährleisten, in dem man Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 19 Jahren, Lehrkräfte und andere Fachkräfte aus dem Bildungs-bereich zur Teilnahme an einem PCR-Test eingeladen hat und diese Personen „ermutigt, den Test möglichst vor Ende der Osterferien abzulegen“ (siehe Pressemitteilung).
Nun ergeben sich daraus allerdings ein paar konzeptionelle Mängel:
- Die Osterferien dauern bis zum 18. April 2021 und hierzulande werden normalerweise um die 60.000 PCR-Tests pro Woche durchgeführt, in Spitzenzeiten werden es auch mal 80.000. Bei rund 105.000 Schülern und wenigstens 10.800 Lehrern und Erziehern (nur in den staatlichen Schulen, zu den privaten Schulen fehlen entsprechende Zahlen) wäre die Testung aller Schüler, Lehrer und Erzieher also rein rechnerisch selbst dann kaum möglich, wenn alle verfügbaren Tests nur für diese Bevölkerungsgruppe genutzt werden würden.
- Aber da die Tests ja, wie oben bereits gesagt, freiwillig sind, wird sich ohnehin nur ein kleinerer Teil der Schüler, Lehrer und Erzieher überhaupt testen lassen. Und selbstverständlich dürfen auch diejenigen, die sich dem Test verweigern, dank der Großmut des Bildungsministeriums am 19. April 2021 wieder in ihren jeweiligen Klassen sein und am Unterricht teilnehmen.
- Viele Luxemburger befinden sich derzeit dort, wo sich auch viele andere Europäer befinden, nämlich im Urlaub. Und viele von ihnen werden auch erst pünktlich zum Schulbeginn aus den Ferien zurückkommen. Die meisten Schüler, Lehrer und Erzieher unter ihnen werden dann also folgerichtig ebenfalls am 19. April 2021 ohne vorherigen Test wieder in ihren Klassen sein.
- Von den vollmundig angekündigten Schnelltests fehlt jede Spur. Nein, halt, nicht jede. Tatsächlich hat das Bildungsministerium am 1. April 2021 (nein, das ist leider kein Aprilscherz) die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass das Bildungsministerium das Parlament über den Ausgang der Pilotphase in Kenntnis setzen wird und dass die Teilnahme an den Schnelltests nach Beginn der Testphase (wann immer das auch sein mag) selbstverständlich, Sie ahnen es vermutlich bereits, freiwillig sein wird.
Wenn man das „Konzept“ des Bildungsministeriums kurz beschreiben sollte, würden einem vermutlich am ehesten die Worte „alles wie gehabt“ in den Sinn kommen. Die Kampagne zur Durchseuchung der jungen Bevölkerung geht also munter weiter.
Fazit
Ich verstehe durchaus, dass Politiker auf die Suche nach dem „Weg der Mitte“ programmiert sind. Ich hätte mir nur erhofft, dass (wenigstens in Zeiten einer Pandemie, die mittlerweile weltweit mehr als 134 Millionen Menschen infiziert und mehr als 2,9 Millionen getötet hat) der eine oder andere Politiker über seinen Schatten springen und seine Suche nach dem Mittelweg zugunsten eines evidenz-basierten Handelns aufgeben würde. Offenbar habe ich da aber ein Einsichtsvermögen unserer „Volksvertreter“ erwartet, dass so wohl nicht vorhanden ist.
Wohlgemerkt, ich verlange nicht, dass sich die Politik immer nach den Wünschen der Wissenschaft richten muss. Mir ist durchaus bewusst, dass wir noch längst nicht alles über dieses Virus und seine Folgen wissen und dass uns die Wissenschaft deswegen auch keine kompletten Handlungs-Vorschläge geben kann. Und ich weiß, dass jede Modellrechnung die Realität niemals komplett abbilden kann, weil es sich dabei halt immer nur um ein Modell handelt.
Aber ich verlange zumindest Ehrlichkeit. Man kann für eine gesteuerte Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung sein, es gibt sicherlich irgendwo irgendwelche Argumente dafür. Und man findet sicherlich auch Argumente dafür, dass man in Pandemie-Zeiten nicht auf Virologen, Epidemiologen und Mediziner hört, sondern Experten aus anderen Fachrichtungen bevorzugt.
Aber wenn man trotz der lauten Warnungen aus Wissenschaft und Medizin eine Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung ohne Rücksicht auf eventuelle Spätfolgen vorantreibt und Kinder, Jugendliche und ihre Eltern per Schulpflicht zur Teilnahme an diesem „Experiment“ zwingt, dann sollte es dafür gute Gründe geben.
Denn es hätte ja durchaus Alternativen gegeben, denn wir wissen schon seit langem, dass
- Betreuungs- und Bildungseinrichtungen als erstklassige Multiplikatoren für ein respiratorisches Virus gelten sollten, wenn dieses Virus für die junge Altersgruppe infektiös ist (siehe beispielsweise im Artikel Sind die Lockerungen und die Schulöffnung in Luxemburg verantwortungslos? vom 7. Januar 2021).
- diese Infektiösität schon bei dem ursprünglichen SARS-CoV-2-Virus gegeben war (siehe beispielsweise hier im Artikel Kinder, Jugendliche, Schulen und die Corona-Pandemie vom 10. August 2020) und bei der B.1.1.7-Mutante noch weitaus ausgeprägter ist (siehe beispielsweise hier im Artikel Kinder haben schon immer zum Infektions-Geschehen beigetragen von der britischen Epidemiologin Deepti Gurdasani vom 5. Januar 2021).
- Antigen-Schnelltests einen Ausweg aus der verfahrenen Lage darstellen können. Seit spätestens letzten Oktober gibt es eine Liste des deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte mit den verfügbaren Tests, die den Mindestanforderungen des Paul-Ehrlich-Instituts entsprechen (nachzulesen beispielsweise hier in der Pharmazeutischen Zeitung).
- wir eigentlich vor einer eventuellen Schulöffnung ein Konzept benötigt hätten, um die Inzidenz auf einem beherrschbaren Niveau zu halten, nicht danach. Dass ein solches Konzept mit recht wenig Aufwand darstellbar gewesen wäre, können Sie bei Interesse in den Artikeln Corona und die Strategie für die nächsten Monate vom 26. Januar 2021 und (detaillierter) Strategien für Schulen und Tests in Luxemburg vom 16. Februar 2021 nachlesen.
- das Schielen auf die Entwicklung der Klinikbetten keinen sinnvollen Blick auf das Infektions-Geschehen erlaubt, weil diese Entwicklung dem eigentlichen Geschehen immer um einige Wochen hinterherhängt und deswegen jede darauf beruhende Entscheidung um einige Wochen zu spät kommt (nachzulesen beispielsweise in den Artikeln Infektions-Dynamik oder warum es dauert, bis Lockerungs-Auswirkungen sichtbar werden vom 19. Januar 2021 und Warum wir in Luxemburg der Pandemie hinterherlaufen vom 9. Februar 2021).
Wir wissen all das und noch viel mehr. Auch unsere regierenden Politiker wissen all das und noch viel mehr. Und doch bringen sie uns alle durch ihre Ignoranz und ihre Besserwisserei in Gefahr und zwingen uns durch das Wörtchen „Schulpflicht“ zur Teilnahme an ihrem Durchseuchungs-Experiment.
Das tun unsere Regierungen, obwohl ihnen das Auftauchen der B.1.1.7-Mutante ein exzellentes Argument gegeben hätte, um von der Illusion der „sicheren Bildungseinrichtungen“ abzurücken. Es wäre Anfang Januar akzeptabel gewesen zu sagen, jetzt mit den Mutanten seien die Bildungseinrichtungen eben nicht mehr sicher. Aber auch diese Möglichkeit zum Ausbruch aus der selbstgestellten Falle wurde zielsicher verpasst.
Liebe Politiker, könntet ihr bitte aufhören, uns zu durchseuchen und umzubringen? Wir haben hierzulande durch eure Entscheidungen Woche für Woche über 1.200 Neu-Infektionen und knapp 20 Tote, um die 400 Menschen pro Woche könnten von Langzeitfolgen betroffen sein (diese Zahlen sind für Luxemburg mit seinen 626.000 Einwohnern, Sie können sich das bei Bedarf auf Ihr Land hochrechnen).
Und wenn ihr’s nicht für uns tut, dann tut es wenigstens für euch! Denn, um hier einmal an die niederen politischen Instinkte zu appellieren, tote Menschen können euch nicht wählen. Und die Überlebenden eures Experiments werden es möglicherweise aus Selbstschutz nicht tun. Also wäre jetzt vielleicht der Moment gekommen, um das zu tun, was ihr eigentlich tun solltet. Nämlich das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.
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wow! top recherchéiert, exellent geschriwwen, d‘Wouerëcht op de Punkt bruëcht, merci dofir