Wir sollten die Delta-Variante etwas ernster nehmen

Wir befinden uns in Luxemburg gerade in einer aus epidemiologischer Sicht etwas schwierigen Situation. Wir haben eine SARS-CoV-2-Variante namens Delta (früher auch die „indische“ Mutante oder B.1.617.2 genannt), die sich hierzulande gerade rasant vermehrt.
Gleichzeitig haben wir erhebliche Maßnahmenlockerungen durchgeführt (Innenräume im Horesca-Bereich auch ohne Test o.ä. zugänglich, Sekundarschulen in voller Klassenstärke), die aus epidemiologischer Sicht mehr als nur bedenklich sind, weil die Impfquote (derzeit sind rund 30 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft) für solche Lockerungen eigentlich noch zu niedrig ist.
Im Januar 2021 waren wir schon einmal in der Situation, dass eine infektiösere Mutante (damals war das die Alpha-Variante bzw. B.1.1.7) die damals vorherrschende Variante verdrängt hat. Diese Mutante konnte sich in Luxemburg explosiv entwickeln, weil wir das Beispiel Großbritannien ignoriert haben und durch die Öffnung der Schulen am 11. Januar 2021 die breitflächige Verteilung dieser Alpha-Variante in die Familien hinein zugelassen haben (die Wissenschaft hat damals vor genau diesen Folgen gewarnt und die Politik hat diese Warnungen ignoriert, nachlesen können Sie das beispielsweise in meinem Artikel Sind die Lockerungen und die Schulöffnung in Luxemburg verantwortungslos? vom 7. Januar 2021).
Gerade jetzt sehen wir, dass die Anzahl der Neu-Infektionen in Großbritannien wieder zunimmt, obwohl dort erheblich mehr Menschen als hierzulande vollständig geimpft sind (gut 46 Prozent der Bevölkerung). Gleichzeitig sehen wir dort, dass mit dem Anstieg der Neu-Infektionen auch die Klinikbelegung wieder langsam zunimmt.
Und wir sehen (wie im Januar schon) leider auch, dass hier in Luxemburg mit einer Verspätung von rund einem Monat aufs Neue dieselbe Entwicklung wie in Großbritannien einzutreten scheint…und unternehmen nichts dagegen.
Deswegen möchte ich in diesem Artikel einmal kurz die bisherige Entwicklung beleuchten, festhalten, was wir bisher über die Delta-Variante wissen und erklären, warum unsere derzeitigen Lockerungen so gefährlich sind.
Dis bisherige Entwicklung
Wenn wir uns die Entwicklung der besorgniserregenden Varianten (Variants of concern) hierzulande ansehen, dann lässt sich durchaus eine Korrelation mit der Öffnung der Bildungseinrichtungen vermuten. Der schnelle Anstieg der Alpha-Variante (B.1.1.7) hat rund zwei Wochen nach der Öffnung der Schulen am 11. Januar 2021 begonnen, der Anteil der in den Schulen festgestellten Infektionen ist seitdem von knapp 20 auf über 30 Prozent angestiegen.
Der Anstieg der Delta-Variante (B.1.617.2) beginnt wiederum rund zwei Wochen nach Ende der Osterferien und setzt sich seitdem recht ungebremst fort.

Nun wird mir bezüglich dieser Grafiken in den sozialen Netzwerken gerne einmal Panikmache vorgeworfen, weil hier nur der prozentuale Anteil der jeweiligen Variante am Infektions-Geschehen, nicht aber die absoluten Fallzahlen dargestellt werden. Also sehen wir’s uns doch einmal mit diesen absoluten Fallzahlen an.
In der folgenden Grafik lässt sich zweierlei erkennen. Zum einen sinkt die Anzahl der Neu-Infektionen seit Ende März kontinuierlich ab, wobei sich die Geschwindigkeit der Abnahme in der letzten Woche verlangsamt hat. Zum zweiten sieht man ebenso deutlich, dass die absolute Anzahl der Infektionen mit der Alpha-Variante deutlich abnimmt, während dieselbe Anzahl bei der Delta-Variante stark zunimmt.

Tatsächlich wird dieses Phänomen immer dann sichtbar, wenn in einer absinkenden Epidemie-Welle (also bei R kleiner als 1) eine infektiösere Variante des Virus auftaucht, deren R-Wert dann aufgrund der höheren Infektiösität wieder bei über 1 liegt (wir konnten das bereits im Januar sehen, als die Alpha-Variante hierzulande dominant geworden ist).
In diesem Fall wird nämlich zunächst einmal der Anstieg der zu diesem Zeitpunkt noch wenig verbreiteten infektiöseren Variante (in unserem Fall ist das die Delta-Variante) durch das starke Absinken der Infektionen mit der vorherigen Variante (in unserem Fall Alpha) kompensiert. Die neue infektiösere Variante verbreitet sich dann quasi im Hintergrund, die schnelle Zunahme der Fälle setzt erst dann ein, wenn die neue Variante dominant geworden ist. In der Grafik sieht so etwas dann ungefähr so aus:

Großbritannien vs. Luxemburg
Mit diesem Vorwissen wollen wir uns jetzt einmal die absoluten Fallzahlen der besorgniserregenden Varianten hierzulande und in Großbritannien ansehen.
In den beiden folgenden Grafiken wird deutlich, dass in Großbritannien die explosive Zunahme der Delta-Variante ungefähr Mitte Mai begonnen hat (also ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Delta dominant wurde). Außerdem lässt sich feststellen, dass wir hierzulande so ungefähr auf dem Stand der Entwicklung sein dürften, auf dem Großbritannien in der ersten Maihälfte war.

Mit diesen Zahlen im Kopf wollen wir uns jetzt einmal ansehen, was wir über diese Delta-Variante jetzt schon so wissen und warum diese Entwicklung auch bei uns nicht ganz ungefährlich ist.
Was wir über die Delta-Variante derzeit wissen
Hierzulande sah es kurzzeitig (bis ungefähr Mitte März) so aus, als würde sich die Beta-Variante (B.1.351) gegenüber der Alpha-Variante durchsetzen können. Das hätte in einer zunehmend immunen Bevölkerung geschehen können, weil die Beta-Variante dort wohl einen Fitness-Vorteil durch ihren leichten Immun-Escape (dem Immunsystem also teilweise entgehen kann) gehabt hätte. Letztlich hat sich aber der Fitness-Vorteil der Alpha-Variante durch die höhere Infektiösität als größer erwiesen.
Mit dem Auftauchen der Delta-Variante hat sich das leider geändert. Denn diese Variante vereint einen Immun-Escape (entgeht also teilweise dem Immunsystem) mit einer im Gegensatz zur Alpha-Variante deutlich höheren Infektiösität.
Ich habe Ihnen in den folgenden Absätzen die aktuelle Studienlage kurz zusammengefasst, die besten Daten dürften derzeit in Großbritannien verfügbar sein. Allerdings sind diese Studien recht neu und teilweise noch nicht begutachtet, die tatsächlichen Zahlen könnten also durchaus nach oben oder unten abweichen.
Die Infektiösität der Delta-Variante ist wohl um bis zu 60 Prozent höher als die der Alpha-Variante. Der Immunschutz durch die Impfungen ist nach vollständiger Impfung glücklicherweise nur minimal niedriger, die Impfung wirkt also auch bei der Delta-Variante sehr gut.
- Schutz vor Erkrankung bei BioNTech 88% (gegenüber 93% bei Alpha), bei AstraZeneca 60% (gegenüber 66% bei Alpha)
- Schutz vor schwerer Erkrankung/Hospitalisierung bei BioNTech 96% (gegenüber 95% bei Alpha), bei AstraZeneca 92% (gegenüber 86% bei Alpha)
Allerdings fällt der Immunschutz nach nur einer Impfdosis sowohl bei BioNTech (33,2% gegenüber 49,2% bei Alpha) als auch bei AstraZeneca (32,9% gegenüber 51,4% bei Alpha) stark ab, nur einfach geimpfte Menschen sind also gegenüber der Delta-Variante deutlich schlechter geschützt.

Dazu kommt, dass sich die Delta-Variante nach einer schottischen Studie offenbar besonders unter jüngeren Menschen verbreitet. Falls sich das bewahrheiten sollte, dürfte die Diskussion über die Impfung von Kindern und Jugendlichen noch wichtiger werden.
Daneben scheinen einige Studien darauf hinzudeuten, dass es im Zusammenhang mit der Delta-Variante (verglichen mit Alpha) zu einer höheren Anzahl von schweren Verläufen und Hospitalisierungen kommen könnte. Allerdings ist die Datenlage hier noch zu unsicher, um das mit Sicherheit beurteilen zu können.
Anmerkung: Alle Quellen zu den hier genannten Zahlen finden Sie übrigens am Ende des Artikels.
Was in Großbritannien gerade passiert
Die Situation in Großbritannien ist aufgrund der rasanten Verbreitung der Delta-Variante mittlerweile kritisch geworden, die geplanten Lockerungen wurden um 4 Wochen auf den 19. Juli 2021 verschoben (die ZEIT berichtete am 14. Juni 2021 darüber).
Einen sehr aktuellen Situationsbericht gibt es hier auf Twitter von Prof. Cristina Pagel, Professorin am University College in London und Mitglied von IndependentSAGE.
Fazit
Wie Sie in den vorigen Absätzen gesehen haben, sind wir in einer aus epidemiologischer Sicht ausgesprochen unangenehmen Lage. Wir haben eine Virus-Variante hier im Land, die in Sachen Gefährlichkeit die bisher grassierenden Varianten deutlich übertrifft. Und weder die hierzulande aktive Delta-Variante noch wir selbst unterscheiden uns biologisch großartig von den Gegebenheiten in Großbritannien, wir sollten das Geschehen dort deswegen nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Eine hochgradig infektiöse Virus-Variante wie Delta lässt sich in einer teilimmunen Bevölkerung nur dann einigermaßen unter Kontrolle bringen, wenn auf soziale Interkationen (gerade in Innenräumen) so weit wie möglich verzichtet und so schnell wie möglich reagiert wird.
Den idealen Zeitpunkt für eine mögliche Reaktion haben wir um wenigstens drei Wochen überschritten, wir werden die Verbreitung dieser Delta-Variante jetzt nicht mehr stoppen können. Ob die Menschen hierzulande vor drei Wochen die aus epidemiologischer Sicht eigentlich notwendigen Maßnahmen mitgetragen hätten, sei hier einmal dahingestellt. Der politische Wille zu solchen Maßnahmen war jedenfalls weder von Seiten der Regierung noch der Opposition vorhanden.
Stattdessen haben wir hierzulande wieder für volle Klassensäle in den Sekundarschulen gesorgt und lassen es bewusst zu, dass sich die Innenräume der Cafés und Restaurants mit ungetesteten Menschen füllen.
Deswegen sind wir jetzt in einer Situation, in der wir mit steigenden Infektions-Zahlen und der Durchseuchung eines Teils unserer Bevölkerung rechnen sollten. Wobei die Frage nicht mehr ist, ob das passiert, sondern nur wann und wie schnell.
Was wohl auch durchaus das Konzept unserer Regierung zu sein scheint, ich habe darüber schon in den Artikeln Das Infektions-Geschehen im Hintergrund wird gerade zum Problem und Durchseuchung – Dummheit, Arroganz oder Vorsatz? hier im Blog geschrieben.
In eigener Sache: Wenn Ihnen dieser Artikel gefällt, dann können Sie mir das Schreiben und Recherchieren gerne mit einem Kaffee oder einer kleinen Spende versüßen. Eine Möglichkeit dazu finden Sie auf der Seite Buy me a coffee.
Wie denken Sie darüber? Haben Sie Anmerkungen oder andere Ideen zu diesem Thema? Oder sehen Sie es ganz anders? Schreiben Sie es mir in den Kommentaren.
Quellen und Weiterführendes
- Increased household transmission of COVID-19 cases associated with SARS-CoV-2 Variant of Concern B.1.617.2: a national case-control study
- Neutralising antibody activity against SARS-CoV-2 VOCs B.1.617.2 and B.1.351 by BNT162b2 vaccination
- Effectiveness of COVID-19 vaccines against the B.1.617.2 variant
- Effectiveness of COVID-19 vaccines against hospital admission with the Delta (B.1.617.2) variant
- SARS-CoV-2 Delta VOC in Scotland: demographics, risk of hospital admission, and vaccine effectiveness
- BNT162b2-elicited neutralization of B.1.617 and other SARS-CoV-2 variants
- Household COVID-19 risk and in-person schooling
- SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England – Technical briefing 14
- SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England – Technical briefing 16
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