Die Rückkehr zum normalen Schulbetrieb könnte zum Problem werden

Ich habe am 30. April 2020 in diesem Blog unter dem Titel Warum die Schulen geschlossen bleiben sollten einen Beitrag veröffentlicht, in dem ich erklärt habe, warum eine Öffnung der Schulen aus meiner Sicht heraus zur Entstehung neuer Infektionsketten führen könnte. Dieser Artikel erklärt, warum meine damalige Sicht heute immer noch aktuell ist.
In Luxemburg ist kurz nach meinem ursprünglichen Beitrag (ab dem 4. Mai) der Schulbetrieb wieder aufgenommen worden. Allerdings erfolgte dies zunächst mit Einschränkungen (Abstandsregeln, in Gruppen aufgeteilte Klassen, Masken usw.), die Einschränkungen wurden in den letzten Tagen bereits teilweise gelockert.
Jetzt strebt das Bildungsministerium offenbar eine vollständige Wiederöffnung der Schulen ohne Auftrennung in Gruppen noch vor den Sommerferien an. Ein Bericht darüber findet sich beispielsweise hier im Tageblatt.
Inwiefern es jetzt geschickt ist, das unter großem Aufwand eingeführte Gruppenmodell für nur zwei Wochen noch einmal umzustellen, möchte ich hier nicht kommentieren. Aber ich möchte auf eine Studie aus Schweden, wo ja bekanntlich die Schulen nicht geschlossen wurden, und einige Zahlen aus Deutschland eingehen, die eine vollständige Schulöffnung aus epidemiologischer Sicht nicht unbedingt ratsam erscheinen lassen.
Letztlich geht es darum, ob sich Kinder und Jugendliche schwerer als Erwachsene anstecken können und ob sie, einmal angesteckt, das Virus ebenso wie Erwachsene weitergeben können. Falls die Antwort auf beide Fragen ja lautet, würde eine vollständige Öffnung der Schulen tatsächlich, wie in meinem damaligen Artikel beschrieben, zur Entstehung neuer Infektionsketten führen können.
Die Studie der Charité zur Infektiösität von Kindern und Jugendlichen
Seit Ende April wird die Vorab-Veröffentlichung (Preprint) einer Studie der Berliner Charité kontrovers diskutiert, in der es um die Rolle von Kindern und Jugendlichen im Infektionsgeschehen der Corona-Pandemie geht. In dieser Studie wurde festgestellt, dass es keine Unterschiede bei der Infektiösität zwischen Kindern und Erwachsenen gibt.
Die kontroversen Diskussionen waren durchaus beabsichtigt, die Studie wurde genau deswegen als Preprint veröffentlicht, damit sie von anderen Wissenschaftlern begutachtet werden konnte.
Mittlerweile gibt es eine aufgrund der Diskussionen überarbeitete Version der Studie. Der entscheidende Satz steht im Einführungstext der Studie, der die wichtigsten Aussagen zusammenfasst: „Insbesondere gibt es aus der vorliegenden Studie keine Belege dafür, dass Kinder möglicherweise nicht so ansteckend sind wie Erwachsene.“.
Prof. Christian Drosten sagt in seinem Podcast über die überarbeitete Studie, dass die Ergebnisse jetzt eher noch aussagekräftiger seien, als sie es vor der Überarbeitung waren.
Wenn man der Kernaussage dieser Studie folgt (was beileibe nicht alle tun), dann wird man festhalten müssen, dass Kinder und Jugendliche als Überträger des SARS-CoV-2-Virus ebenso in Betracht kommen wie Erwachsene.
Die schwedische Studie
Bisherige Studien zur Ansteckungsgefahr bei Kindern leiden unter der Problematik, dass die Daten für diese Studien während des Lockdowns erfasst wurden, zu einem Zeitpunkt also, als die Schulen geschlossen waren und das Ansteckungsrisiko für Kinder und Jugendlichen in diesen Schulen demzufolge gar nicht existierte.
Aus diesem Grunde ist eine aktuelle Studie aus Schweden sehr interessant, weil es in Schweden ja bekanntermaßen aufgrund des „schwedischen Sonderwegs“ keine solchen Schulschließungen gegeben hat, zumindest nicht bei den jüngeren Jahrgängen. Und weil es in Schweden eine sehr informative Antikörperstudie gegeben hat, die nicht auf dem Zufalls-Prinzip, sondern auf einer repräsentativen Auswahl von Haushalten beruht.
Ganz kurz gesagt kommt diese Studie zu folgendem Ergebnis:
- In der Altersgruppe der 65- bis 95-jährigen verfügen 2,9 % über Antikörper
- In der Altersgruppe der 20- bis 64-jährigen verfügen 6,5 % über Antikörper
- In der Altersgruppe der 0- bis 19-jährigen verfügen 7,5 % über Antikörper
Daraus ergibt sich zweierlei. Zum einen sind Kinder und Jugendliche ganz offenbar (zumindest bei geöffneten Schulen) einer mindestens ebenso großen Ansteckungsgefahr ausgesetzt, wie dies bei Erwachsenen der Fall ist. Und zum zweiten, dass auch Schweden trotz weitgehendem Verzicht auf einen Lockdown noch sehr weit von einer Herdenimmunität entfernt ist.
Nach dieser Studie lässt sich also durchaus davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich einem ebenso hohen Ansteckungsrisiko wie Erwachsene ausgesetzt sind. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus den Situationsberichten des Robert-Koch-Instituts, in denen der Anteil der bis zu 20-jährigen an den Corona-Erkrankungen seit März ständig zunimmt und mittlerweile bei um die 20 % liegt. Was ziemlich exakt dem Anteil der bis zu 20-jährigen an der Bevölkerung entspricht und deswegen ebenso deutlich darauf hinweist, dass jüngere Menschen eben kein niedrigeres Ansteckungsrisiko haben.
Die vollständige Analyse dieser Studien durch Professor Christian Drosten finden Sie übrigens bei Interesse in der Folge 49 seines Podcasts bei NDR.
Fazit
Die oben genannten Studien stammen von Wissenschaftlern, die als absolute Experten für diese Art von Untersuchungen gelten. Wenn man ihnen Glauben schenkt, dann sind Kinder und Jugendliche offenbar mindestens genauso durch eine Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus gefährdet wie Erwachsene und können dieses Virus auch genauso gut an andere Menschen weitergeben.
Wenn man an diese Prämisse glaubt, dann ist eine vollständige Rückkehr zu „normalen“ Verhältnissen in den Schulen aus epidemiologischer Sicht kaum vertretbar. Das Risiko neuer und kaum nachverfolgbarer Infektionsketten ist dazu schlicht zu groß.
Daran ändert auch ein groß angelegtes Testprogramm auf Basis von PCR-Tests kaum etwas, weil diese Tests zu langsam reagieren und zu selten durchgeführt werden, als dass damit die Entstehung solcher Infektionsketten ausgeschlossen werden könnte.
Die in Luxemburg geplante vollständige Rückkehr der Schulen zum Normalbetrieb noch vor den Sommerferien sollte daher grundlegend auf ihren Nutzen und ihre potentiellen Risiken hin hinterfragt werden. Und zwar jetzt, noch bevor sie in Kraft tritt.
Wohlgemerkt, es geht heute nicht mehr darum, dass die Schulen geschlossen werden sollten. Wir haben in Luxemburg mittlerweile derart niedrige Ansteckungsraten erreicht, das eine Öffnung der Schulen notwendig und richtig ist. Aber wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob wir nicht noch eine Weile bei einer Aufteilung in Gruppen und einigen Abstandsregeln bleiben sollten, um möglichst viele Risiken auszuschließen. Und wir sollten nicht ignorieren, dass die oben genannten Studien mehr als deutlich gewisse Risiken aufzeigen.
Zu diesem Artikel gibt es unter dem Titel Schulen und Feiern – Mögliche Treiber der zweiten Welle eine Fortsetzung auf Basis von aktuellen Daten.
Wie denken Sie darüber? Haben Sie Anmerkungen oder andere Ideen zu diesem Thema? Oder sehen Sie es ganz anders? Schreiben Sie es mir in den Kommentaren.
Weiterführende Links
- Artikel vom MDR über die Studie der Charité
- Vor-Veröffentlichung der Charité zur Studie über Viruslasten bei Kindern
- Aktuelle Version der Studie der Charité über Viruslasten bei Kindern
- Artikel aus der ZEIT zur Studie der Charité
- Studie aus Schweden zur Ansteckungsgefahr bei Kindern und Jugendlichen
- Folge 49 des Podcasts von Professor Christian Drosten
- Artikel aus dem Tageblatt zum geplanten Verzicht auf Schülergruppen
- Artikel aus dem Luxemburger Wort zum Schulbetrieb in Luxemburg
- Artikel aus dem Journal zu den aktuellen Lockerungen in Luxemburg
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