Corona

Wie wissenschaftliche Erkenntnisse von politischen Parteien ignoriert werden

Dieser Meinungs-Beitrag ist ursprünglich hier auf Twitter erschienen, ich veröffentliche ihn hier im Blog mit freundlicher Genehmigung der Autorin, der deutschen Rechtsanwältin Nina Diercks. Sie können (und sollten) ihr auf Twitter unter https://twitter.com/raindiercks folgen.

Anmerkung: dieser Meinungs-Beitrag, den ich inhaltlich teile, bezieht sich auf die deutsche SPD, nicht auf irgendeine luxemburgische Partei. Ich veröffentliche ihn hier im Blog, weil die hier geschilderte Problematik in ähnlicher Form auch auf Luxemburg und damit leider auch auf die Regierungsparteien hierzulande zutrifft.

Die SPD macht weiter Wahlkampf. Ich schreibe meine Email zum Austritt. Dabei bricht mein Herz. Denn ich bin überzeugte Sozialdemokratin. Aber ich kann nicht Mitglied einer Partei sein, die in der größten Krise der Republik seit 70 Jahren auf Landes- wie Bundesebene gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaft zu Gunsten von „parteipolitischen Zwängen“ oder aufgrund eines Bundestags-Wahlkampfes ignoriert und relativiert.

Wir rasen seit Monaten mit einem 40-Tonner auf die Wand zu. Seit Monaten tritt jegliches von RKI, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Christian Drosten, Isabella Eckerle et al. (kurz von jedem ernstzunehmenden Virologen und Epidemiologen skizzierte) Szenario ein. Diese Szenarien sind keine „Meinung“, zu der man auch „anders“ stehen kann. Das sind wissenschaftlich konsensuale Fakten.

Der Weg aus der Krise wurde wieder und wieder von den genannten beschrieben (#NoCovid). Es wurde ignoriert. Nun bitten nicht mehr die Intensivmediziner (einschl. Pflege) um Hilfe, sie schreien in einem schrillen Crescendo danach. Es wird ignoriert.

Die Zahlen an infizierten Schüler*innen steigen und steigen. Die Zahlen an Menschen der Elterngeneration auf den ITS steigen und steigen. #LongCovid ist bekannt. #LongCovidKids ist bekannt. Es ist bekannt von wie vielen Infizierten, wie viele ins Krankenhaus, wie viele sterben und wie viele mit Long-Covid leben müssen. Was Letzteres bedeutet weiß man noch nicht. Natürlich muss immer abgewogen werden. Es gibt kein absolutes Recht auf Gesundheit. Das muss man mir als Rechtsanwältin nicht erklären.

Diese Abwägungen müssen jedoch auf wissenschaftlich Grundlage, auf Basis von Fakten getroffen werden. Auf Basis dieser Fakten sind Strategie und konkrete Maßnahmen sowie die Kommunikation dazu zu entwickeln. Das ist bis heute nicht passiert.

Nehmen wir das Beispiel Schule. Natürlich sind Bildung und soziale Teilhabe über und durch Schulen wichtig. Auch die psychischen Effekte, die diese mangelnde Teilhabe auslöst sind massiv. Doch wo sind die Konzepte in Monat 14 der Pandemie um flächendeckende digitale Bildung und Teilhabe umzusetzen. Wo sind die Konzepte für schwächere Schüler*innen und solche aus schwierigen Verhältnissen? Nirgendwo. Es ist nichts passiert. Nicht genug.

Und der vielbeschworene psychische Effekt der nicht vorhandenen Teilhabe? Nur über guten digitalen Unterricht und einen Knuffel-(Spiel-)Kontakt lässt sich „Pandemie“ auch für Kinder gut aushalten. Der ewige Dämmerlockdown, das „Wann hört es auf?“, der nichtshalbes-nichtsganzes Wechselunterricht, der macht die Kinder fertig. Die sind nicht doof. Und von den Kindern, die seit Monaten gar keinen realen Unterricht haben und keine Aussicht auf welchen, da der Dämmerlockdown immer weiter und weitergeht, über die wird einfach gar nicht gesprochen.

Stattdessen bejubelt man sich nun, dass man eine Änderung des Infektions-Schutz-Gesetzes (InfSchG) mit durchsetzt, die Distanz-Unterricht bei einer Inzidenz von 200, sonstige Schließungen bei 100 und eine Testangebotspflicht für Unternehmen vorsieht. Wow. Im InfSchG war bisher 35/50 vorgesehen. Das wurde von den MP ignoriert. Der 40-Tonner raste mit 100/200. Und nun wird das Rasen der MP im Gesetz festgeschrieben?

Das ist keine Bremse, kein Wellenbrecher. Das ist ein nichts. Wider aller wissenschaftlicher Erkenntnis. Ansteckungen finden in Innenräumen statt. Also Schulen und Büros. Nach konsensualer Erkenntnis sind Tests ein gutes Mittel zur Pandemiekontrolle – bei Niedriginzidenzen.

Und laut MODUS-Covid Studie an Schulen auch bei Niedriginzidenzen nur dann, wenn Tests richtig durchgeführt werden, zeitgleich eine FFP2-Pflicht und halbe Klassen da sind. Es gibt keine FFP2-Pflicht an Schulen. Vor allem gibt es keine Niedriginzidenzen (einzelne Kreise ausgenommen).

In Hamburg ist die Inzidenz unter Schulkindern bei weit über 200 – es passiert nichts. Außer, dass diese Inzidenzen steigen und steigen und vermehrt die Elterngeneration auf der Intensiv-Station landet. Peter Tschentscher (Anm.: Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg) hat heute noch einmal in der Landes-Pressekonferenz erklärt, dass Tests nur bei Niedriginzidenzen ein probates Mittel sind. Auch weil mit den Tests nicht alle infektiösen Menschen erkannt werden. Außer bei Schulkindern. Da hilft es wohl – egal wie hoch die Inzidenz ist. Merkt man die Verbitterung?

Ja, die Verbitterung ist da. Wie so viele in meinem Freundes- und Bekanntenkreis fühle ich mich schlicht von der Politik zurückgelassen und B.1.1.7 ausgesetzt. Dazu hilft auch der Verweis auf die Wirtschaft nicht.

Unter anderem Clemens Fuest (Anm.: Präsident des ifo Instituts) betont wider und wider, dass der Dämmerlockdown Gift für die Wirtschaft ist. Kein Wunder, 6 bzw. 12 Monate Dauerlockdown hält kaum eine Gastro, ein lokaler Laden oder eine Kleinkunstbühne aus. Ein großes Unternehmen schon. Der Betrieb läuft ja. Maßnahmen müssen nicht ergriffen werden. Testpflicht! Ha! Wo käme man denn da hin! Wissen Sie, was das kostet?! Wie soll das denn bitte schön in die Betriebsabläufe?! (So wie jeder verdammte Sicherheitsschuh!).

Warum kann ich nun nicht weiter in der Partei bleiben? Warum bringe ich mich nicht ein oder ändere was „von innen“? Ich liebe es zu argumentieren und zu streiten, ebenso wie Kompromisse zu finden (komisch, warum bin ich bloß Anwältin geworden?!).

Ich kann über Strategien und Maßnahmen streiten. Die Wege und das Ziel. Ich kann das aber nur auf Basis von Fakten tun. Was mir die SPD in den letzten insbesondere 8 Monaten gezeigt hat, ist das Fakten aka wissenschaftliche Erkenntnisse nicht viel zählen – außer die, die gerade ins eigene Meinungsbild oder das eigene politische Vorhaben passen.

Notfalls gibt man eine eigene Studie in Auftrag, die die Meinung untermauert (Manuela Schwesig), lässt Studien in Schubladen verschwinden (Ties Rabe) oder ignoriert Erkenntnisse wie bei der MODUS-COVID für das Familien-, Senioren-, Frauen- & Jugendministerium, wenn sie nicht passen. Wie soll ich auf Basis solchen Handelns in Bund wie Ländern denn noch glauben, ich könne irgendwas bewirken?

Ich rede mir seit Monaten den Mund fusselig. Viele andere auch. Hier und an anderen Orten. Es interessiert nicht. Was Wissenschaftler (siehe oben) sagen, interessiert auch nicht. Ich kann nicht in einer Partei bleiben, die die Wissenschaft (und ich rede nicht nur von Virologen und Epidemiologen, auch wenn auf die als erstes in einer f*cking Pandemie zu hören ist) ignoriert. Es geht nicht. Denn dann gibt es keine reale Grundlage mehr für Debatten. Und wie sollen auf dieser Basis noch ganz andere Krisen wie die Klimakrise bewältigt werden? Rechnen wir dann auch die Abschmelzung der Polkappen schön?

Ich kann in einer Partei die in ihrer (fast) gesamten Führung, egal ob Land oder Bund, so mit der Wissenschaft umgeht, nicht bleiben. Nicht in meinem Namen. Es geht nicht. Egal wie sehr es mir das Herz bricht. Denn ich bin und bleibe Sozialdemokratin.

Thx for disturbing you. And thx for listening.

PS: Wer Orthografiefehler und anderes findet, darf sie behalten!

Den Original-Thread mit allen Kommentaren gibt’s übrigens hier :

Nina Diercks

Nina Diercks ist Rechtsanwältin und Inhaberin der Kanzlei Diercks in Hamburg

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