Corona

Wenn Statistik zur Gefahr wird

Der israelische Mathematiker Issac Ben-Israel hat Mitte April eine Statistik publik gemacht, die ein recht erstaunliches Resultat zeigte. In seiner Studie kommt er zu dem Schluss, dass die Coronavirus-Pandemie nach 70 Tagen ihr Ende erreicht, ganz automatisch und unabhängig davon, welche Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen wurden.

Der Autor ist übrigens keineswegs ein weltfremder Forscher, sondern seit fünfzehn Jahren Vorsitzender der Israel Space Agency und seit zehn Jahren Chef des nationalen Forschungsrates seines Landes.

Seine These allerdings hat sich bereits jetzt als falsch herausgestellt, denn die 70 Tage sind längst vergangen, und die Corona-Pandemie ist mitnichten verschwunden. Trotzdem lohnt es sich, sich einmal mit der These zu befassen, weil sie ein schönes Beispiel dafür darstellt, wie eine falsch interpretierte Statistik zu gefährlich falschen Annahmen führen kann.

Gerade in der jetzigen Phase der Lockerungen ist die richtige Einschätzung von Statistiken enorm wichtig. Denn auf ihnen beruhen die Entscheidungen von Regierungen, falsche Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen können gerade jetzt zu katastrophalen Ergebnissen führen.

Ich möchte daher in diesem Artikel einmal verschiedene Kennzahlen einiger Länder (Luxemburg, Deutschland, Schweden, Großbritannien und USA) vergleichen und die trotz teilweise ähnlicher Kennzahlen sehr unterschiedlichen Entwicklungen in diesen Ländern aufzeigen.

Die verglichenen Länder

Ich habe für diesen Artikel zum Vergleich die Länder Luxemburg, Deutschland, Schweden, Großbritannien und USA gewählt. Warum gerade diese Länder? Hauptsächlich deswegen, weil sie sehr unterschiedliche Ansätze zur Bekämpfung der Pandemie gewählt haben und auch in Bezug auf die Testsituation große Unterschiede vorhanden sind.

  • Luxemburg und Deutschland verfügen über eine hohe Testkapazität und haben relativ früh recht mit umfangreichen Eindämmungs-Maßnahmen begonnen. In Deutschland wurden bisher 3,2891 % der Einwohner getestet, in Luxemburg waren es 8,7005 %.
  • Schweden hat bis heute auf einen kompletten Lockdown verzichtet und hat bisher 1,4704 % seiner Einwohner getestet.
  • In Großbritannien wurde mit der Einführung harter Eindämmungs-Maßnahmen lange gezögert. Nach stark ansteigenden Zahlen kam es dann letztlich zu solchen Maßnahmen. Die Testanzahl liegt mit 1,8714 % der Einwohner ebenfalls im unteren Bereich.
  • Die USA fahren aufgrund der irrlichternden Führung durch Donald Trump einen unklar definierten Kurs, der noch am ehesten von den Gouverneuren und Gesundheitsbehörden der einzelnen Bundesstaaten festgelegt wird. Im Moment gibt es einen politischen Streit um möglichst umfassende Lockerungen, obwohl sich das Land noch mitten in einer explosiven Pandemie-Entwicklung befindet. Immerhin wurden zumindest die Testkapazitäten stark ausgebaut, bisher wurden 2,6313 % der Bevölkerung getestet.

Die Angaben zu der Anzahl der durchgeführten Tests stammen von Our World in Data aus dem Datenbestand vom 11. Mai 2020, es handelt sich um annähernde Daten.

Die Reproduktionszahl

Die Entwicklung der Reproduktionszahl in den einzelnen Ländern scheint auf den ersten Blick anzudeuten, dass sich die Entwicklung der Pandemie tatsächlich ungeachtet der ergriffenen Maßnahmen relativ ähnlich entwickelt und dass sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Pandemie in allen Ländern verringert.

Dieser Eindruck ist leider grundfalsch, wie sie später im Artikel sehen werden. Besonders deutlich zeigt sich das in der Grafik am „Parallel-Slalom“ zwischen Deutschland und Schweden, der einen völlig falschen Eindruck vom tatsächlichen Geschehen vermittelt.

Hinweis zur Berechnung: Die Reproduktionszahl Rt wurde auf Basis einer Generationszeit von 4 Tagen und ohne Einrechnung einer Inkubationszeit berechnet.

Die Neu-Infektionen pro 10.000 Einwohner

Bei einer genügend großen Testkapazität in den einzelnen Ländern sollte sich bei einer Verlangsamung der Pandemiewelle eigentlich auch die Anzahl der täglichen Neu-Infektionen abschwächen. Um diese täglichen Neu-Infektionen zwischen den Ländern vergleichbar zu machen, zeigt die folgende Grafik diese täglichen Neu-Infektionen pro 10.000 Einwohner des jeweiligen Landes an.

Hier fällt bereits auf, dass die Anzahl der täglichen Neu-Infektionen in Luxemburg (grüne Linie) und Deutschland (lila Linie) tatsächlich sinkt, während sie in den anderen drei Ländern trotz sinkender Reproduktionszahl mehr oder weniger gleichbleibt bzw. sogar leicht ansteigt.

Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass in Schweden, Großbritannien und den USA bis heute hauptsächlich Personen mit schwereren Symptomen getestet werden und dass die verbleibende Dunkelziffer an unerkannt Infizierten relativ hoch sein dürfte.

Die Anzahl der Infizierten in Prozent der Bevölkerung

Ein ähnliches Bild liefert die Anzahl der offiziell mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Personen (ausgedrückt in % der Bevölkerung des jeweiligen Landes). Auch dieser Wert sollte aufgrund der sinkenden Reproduktionszahl eigentlich mit zunehmender Dauer der Pandemie-Welle langsamer steigen.

Bei Luxemburg und Deutschland ist das auch tatsächlich der Fall, die Kurven dieser Länder flachen sich recht deutlich ab. Ein gänzlich anderes Bild liefern Schweden, Großbritannien und die USA, bei denen die entsprechende Kurve mehr oder weniger linear steigt.

Auch hier zeigt sich deutlich, dass in diesen Ländern eher die Testkapazität der bestimmende Faktor für die Anzahl der erkannten Infektionen ist und die verbleibende Dunkelziffer an unerkannt Infizierten relativ hoch sein dürfte.

Die annähernde Berechnung der Dunkelziffer

Auf Basis der Annahme, dass das SARS-CoV-2-Virus in allen betroffenen Ländern eine ähnlich hohe Sterblichkeit aufweist, lässt sich annähernd die Dunkelziffer der unerkannt infizierten Personen hochrechnen.

Umso mehr in einem bestimmten Land getestet wird, desto geringer sollte die Differenz zwischen der offiziellen Zahl der Infizierten und dieser Dunkelziffer sein. Tatsächlich trifft das auf die Zahlen in der folgenden Grafik auch zu. Währen der Wert für Luxemburg beim ungefähr 4,5-fachen und für Deutschland beim ungefähr 6-fachen der offiziellen Anzahl der Infizierten liegt, liegt er für die restlichen Länder weitaus höher.

Hinweis zur Berechnung: Die Berechnung der Dunkelziffer erfolgte auf Basis einer Infektionssterblichkeit von 0,6 % auf Basis der offiziell bestätigten Infektionen in Relation zur Bevölkerung des jeweiligen Landes. Die Werte wurden ausschließlich zur Visualisierung der Situation berechnet und stellen keine exakten Daten dar.

Fazit

Das Pandemie-Geschehen lässt sich nicht auf Basis einer einzigen Kennzahl bewerten. Erst die Zusammenführung mehrerer Werte ermöglicht das Einschätzen der tatsächlichen Lage in einem Land.

Außerdem beziehen sich die hier genannten Werte ausschließlich auf das eigentliche Infektionsgeschehen. Um einen vollständigen Überblick zu gewinnen, müsste neben diesen Zahlen zumindest noch die Situation in den Kliniken (Belegung und Kapazität im Normal- und Intensivbereich) und die Altersverteilung der Infizierten berücksichtigt werden.

Daneben spielt auch die regionale Verteilung der Fälle und die Identifizierung eventueller Superspreader (Punkte mit einem besonders hohen Infektions-Risiko) eine wichtige Rolle. Gerade die Superspreader werden im weiteren Pandemie-Geschehen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Die eine Kennzahl, die den Verlauf einer Pandemie-Welle beschreiben könnte, gibt es also nicht. Nehmen Sie es also den Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten nicht übel, wenn sie jeden Tag von einer anderen Kennzahl reden. Das dient nicht der Verwirrung, sondern ist leider eine Notwendigkeit, wenn man die schnell wechselnden Verhältnisse in einer Situation wie dieser beschreiben möchte.

Claus Nehring

Ich bin freiberuflicher Autor, Journalist und Texter (aka "Schreiberling") aus Luxemburg. Als Informatiker und Statistiker habe ich jahrelange Erfahrung in der Visualisierung und Modellierung großer Datenmengen. Ich beschäftige mich seit mehr als 30 Jahren mit Infektionskrankheiten und publiziere Artikel zu diesem Thema, aus verschiedenen anderen Wissenschafts-Bereichen und aus dem Bereich Internet & Gesellschaft,

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