Reicht eine Impfquote von 65 – 70 % für weitreichende Öffnungen aus?
Wir sehen im Moment in ganz Europa, dass bei den Covid-19-Impfungen nur noch sehr langsame Fortschritte erzielt werden, die Impfbereitschaft in der Bevölkerung (gerade in der jüngeren Bevölkerung) scheint nicht mehr allzu hoch zu sein. Ganz offenbar ist es uns in vielen Ländern Europas (darunter auch Luxemburg) nicht gelungen, einen erheblichen Bevölkerungs-Anteil von den Vorteilen der Impfung zu überzeugen.
Damit stellt sich die Frage, ob sich die angestrebte Herdenimmunität (auch im Hinblick auf die erheblich infektiösere Delta-Variante, mehr darüber finden Sie hier) überhaupt noch erreichen lässt. Das deutsche Robert-Koch-Institut ging schon in einem Bericht von Juli 2021 davon aus, dass dafür mindestens 85 Prozent der Menschen zwischen zwölf und 59 Jahren und 90 Prozent der über 60-Jährigen vollständig gegen COVID-19 geimpft sein müssen, mittlerweile gehen Wissenschaftler schon von rund 95% der Bevölkerung über 18 Jahren aus.
Die einzigen EU- Länder, die auch nur annähernd diesen Wert erreichen, sind Dänemark (94,9 %), Irland (91,4 %), Malta (90,8 %) und Portugal (90,0 %).
Anmerkung: die hier genannten Impfquoten sind auf die Bevölkerung über 18 berechnet, bezogen auf die Gesamtbevölkerung liegt die Quote deutlich darunter, die Spitzenreiter Malta und Portugal erreichen Werte von 80,3 bzw. 79,4 %.
Ob solche Impfquoten tatsächlich ausreichen, um im Falle vollständiger Öffnungen sowohl die Fallzahlen als auch die Klinikbelegung unter Kontrolle zu behalten, werden wir in den nächsten Wochen am Beispiel Dänemark sehen können. Denn dort wurden die Eindämmungs-Maßnahmen aufgrund der hohen Impfquote Mitte September aufgehoben (siehe beispielsweise hier bei der Tagesschau).
Lassen auch niedrigere Impfquoten weitreichende Öffnungen zu?
In den meisten europäischen Ländern werden solch hohe Impfquoten wie in Portugal oder Dänemark vermutlich nicht erreicht werden können. Und damit stellt sich die Frage, was denn nun eigentlich passieren würde, wenn man trotz niedrigerer Impfquoten die bestehenden Beschränkungen fallen lassen würde.
Und darauf wird es vermutlich hinauslaufen, denn die europäische Bevölkerung scheint von erneuten Einschränkungen nichts mehr hören zu wollen. Und die Politik (die sich ja gerne einmal am kleinsten gemeinsamen Nenner orientiert), scheint das ähnlich zu sehen und scheut daher jede Entscheidung, die irgendeinen Bürger (ob nun geimpft oder nicht) benachteiligen könnte.
Lockerungen (auch umfassende) können bei der derzeitigen Lage auch durchaus funktionieren. Denn wir werden über den Herbst und Winter eine genügend hohe Zahl an immunisierten Menschen erreichen, damit eine Herdenimmunität möglich wird. Die Frage ist nur, wie hoch der Preis in Form von Todesfällen und Hospitalisierungen dafür sein wird.
Denn die Immunität lässt sich ja nicht nur durch eine Covid-19- Impfung erreichen, sondern auch durch eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus (wenn auch mit einem erheblich höheren Risiko verbunden). Im Prinzip könnten Lockerungen also durch die Durchseuchung ungeimpfter Menschen in relativ kurzer Zeit zu der angestrebten Herdenimmunität führen.
Die Probleme dabei
Allerdings beinhaltet ein solches Vorgehen einige nicht ganz unerhebliche Risiken und ist auch ethisch hinterfragbar. Die Risiken lassen sich dabei noch recht leicht beziffern, also sehen wir’s uns einmal am Beispiel von Luxemburg an.
Hierzulande gibt’s derzeit (lt. Tagesbericht der Santé) rund 220.000 nicht vollständig geimpfte Menschen. Davon sind rund 78.000 unter 12 Jahre alt und können deswegen nicht geimpft werden, weiter rund 13.000 haben bereits eine erste Impfung erhalten (sich also für die Impfung entschieden). Damit bleiben also rund 129.000 Menschen übrig, die sich impfen lassen könnten und das aus irgendeinem Grund bisher nicht getan haben.
Bei einem vollständigen Wegfall der Eindämmungsmaßnahmen kann man davon ausgehen, dass sich diese ungeschützten Menschen in ziemlich kurzer Zeit mit dem Virus infizieren werden. Unter der Prämisse, dass die bisherigen Sterbe- und Hospitalisierungs-Raten (um 1% bzw. 6%) ungefähr gleichbleiben (womit bei der Delta-Variante trotz einer jüngeren betroffenen Bevölkerung leider gerechnet werden muss), besteht damit ein potentielles Risiko von rund 1.300 möglichen Todesfällen und rund 7.700 möglichen Hospitalisierungen in den nächsten Monaten.
Für unsere Nachbarländer gilt vom Prinzip her ähnliches, nur sehen die absoluten Zahlen aufgrund der erheblich größeren Bevölkerung noch um einiges erschreckender aus. In Deutschland haben knapp 26,6 Millionen Menschen überhaupt keinen Impfschutz (also noch nicht einmal eine erste Impfdosis erhalten). In Frankreich sind es rund 13,7 Millionen Menschen ohne Impfschutz und in Belgien rund 2,9 Millionen Menschen.
Alleine in Luxemburg und seinen direkten Nachbarländern sind demnach gut 43,4 Millionen Menschen ohne irgendeinen Impfschutz. Das ist ungefähr die Lage, in der wir uns heute befinden. Das potentielle Risiko, dass wir daher mit weitgehenden Öffnungen im Herbst und Winter in Kauf nehmen würden, lässt sich mit obigen Sterbe- und Hospitalisierungs-Raten leicht erahnen.
Anmerkung: Genau berechnen lässt sich das nicht, weil die tatsächliche Anzahl der immunisierten Menschen nicht bekannt ist. Die Zahl könnte nach unten tendieren, weil von den ungeimpften Menschen sicherlich einige schon einmal (unbemerkt) infiziert waren, und damit trotzdem schon über einen Immunschutz verfügen. Sie könnte aber auch nach oben tendieren, weil unter den Geimpften auch Menschen mit Immundefiziten sein werden, bei denen die Impfung schwächer wirkt.
Geimpfte und Genesene zählen nicht mehr
Die Covid-19-Impfung und die von ihr verursachte Immunität soll es uns erlauben, mit dem SARS-CoV-2-Virus so zu leben, dass diese Pandemie in einem endemischen Zustand endet. Endemisch bedeutet zwar, dass uns dieses Virus noch lange Zeit begleiten wird, dass es aber nur noch in Einzelfällen zu schweren Erkrankungen führt (ähnlich beispielsweise der Influenza).
Das wiederum bedeutet, dass sich jeder von uns ab jetzt vermutlich jährlich mit diesem Virus oder einer seiner Varianten infizieren wird. Das ist auch durchaus gut so, weil es für eine ständige Auffrischung unserer Immunantwort sorgen wird. In der Folge sorgt dieses so trainierte Immunsystem dann dafür, dass wir SARS-CoV-2 dann irgendwann nur noch wie eine Erkältung oder Grippe wahrnehmen werden.
Aber damit das so passieren kann, werden wir Infektionen mit dem Virus zulassen müssen. Für vollständig immunisierte Menschen (also vollständig Geimpfte und Genesene mit intaktem Immunsystem) ist das auch nicht besonders tragisch, denn sie haben kaum ein Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung und sind deutlich kürzer infektiös. Warum das so ist, können Sie bei Interesse auch noch einmal im Artikel Ein paar Worte zu Impfung und Immunität hier im Blog nachlesen.
Deswegen lasse ich in diesem Artikel ganz bewusst diese vollständig immunisierten Menschen außen vor, weil sie für das aktuelle Geschehen keine Rolle mehr spielen sollten. Anders sieht das bei Menschen aus, die sich aufgrund ihres Alters nicht impfen lassen können oder bei denen die Impfung aufgrund einer Immunschwäche keinen kompletten Schutz bieten kann.
Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Immundefizit zählen umso mehr
Leider gibt’s aber in unserer Gesellschaft nicht nur Geimpfte und Impfverweigerer, es gibt auch ziemlich viele Menschen, die sich aufgrund ihres Alters nicht impfen lassen können oder bei denen eine Immunschwäche nur eine (zu) schwache Immunantwort zulässt.
Kinder unter 12 Jahren
Von den oben genannten gut 43,4 Millionen Menschen ohne Impfschutz in Luxemburg und seinen direkten Nachbarn Deutschland, Frankreich und Belgien können sich knapp 22,1 Millionen nicht impfen lassen, weil sie unter 12 Jahre alt sind und es keinen zugelassenen Impfstoff für sie gibt.
Das ist zunächst einmal kein besonders großes Problem, weil wir wissen, dass eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus in dieser Altersgruppe fast nie zu schweren Verläufen und noch weitaus seltener zu Todesfällen führt. Außerdem ist es ziemlich wahrscheinlich, dass es recht zeitnah zu ersten Impfstoff-Zulassungen für Unter-12-Jährige durch die EMA kommen dürfte (siehe beispielsweise hier bei der Tagesschau).
Um einiges schwieriger ist die Einschätzung der potentiellen Gefährdung durch die Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung, das sogenannte Long-Covid. Denn eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus kann auch bei asymptomatischen und leicht symptomatischen Verläufen und auch bei jüngeren Menschen zu Langzeitfolgen führen. Schwer einordnen lässt sich das potentielle Risiko vor allem deswegen, weil wir über Long-Covid noch nicht so sehr viel wissen (den aktuellen Stand finden Sie im Artikel Die versteckte Pandemie – Long-Covid vom 8. August 2021 hier im Blog).
Immungeschwächte Menschen
Ein größeres Problem stellen Menschen dar, denen die Covid-19-Impfung aufgrund einer Immunschwäche keinen vollständigen Schutz bietet. Denn das sind weitaus mehr, als man auf den ersten Blick meinen möchte. In Europa dürften rund 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung von einer Immunschwäche betroffen sein, entweder aufgrund von Erkrankungen (beispielsweise Autoimmunerkrankungen wie Rheuma, Multiple Sklerose oder Diabetes Typ 1, siehe beispielsweise hier beim WDR) oder durch Medikamente (sog. Immunsuppressiva, beispielsweise bei Organtransplantationen oder Krebserkrankungen).
Alleine in Luxemburg und seinen direkten Nachbarländern könnten bei rund 118 Millionen geimpften Menschen also zwischen 6 und 12 Millionen Personen unter einer solchen Immunschwäche leiden. Nach aktueller (allerdings noch nicht sehr sicherer) Studienlage dürfte eine große Mehrheit von ihnen trotz der Immunschwäche eine ausreichende Immunantwort aufbauen (siehe beispielsweise hier beim ORF oder hier bei Healthcare in Europe).
Aber selbst wenn nur 10 Prozent diese immungeschwächten Menschen nach der Impfung keinen ausreichenden Immunschutz aufbauen können, dann könnte eine Immunschwäche immer noch zwischen 600.000 und 1.200.000 Menschen in akute Gefahr bringen (etwas ausführlicher können Sie das übrigens bei Interesse auch hier in der Zeit nachlesen).
Ältere Menschen
Dazu kommen noch rund 34 Millionen Menschen über 65 Jahre, die zwar größtenteils geimpft sind, bei denen aber aus Altersgründen mit einer abgeschwächten Immunantwort gerechnet werden muss. Auch hier dürfte die große Mehrheit durch die Impfung ausreichend geschützt sein. Wir wissen allerdings aus Studien (siehe beispielsweise hier bei Spektrum), dass sich der Immunschutz bei älteren Menschen langsamer aufbaut und weniger hoch ausfällt.
Analog zu Menschen mit einer Immunschwäche sollten wir also auch bei älteren Menschen davon ausgehen, dass ein gewisser Prozentsatz von ihnen durch die Impfung nicht umfänglich geschützt ist.
Die mittlerweile auch von der EMA empfohlenen Auffrischungs- oder Booster-Impfungen (siehe beispielsweise hier bei der Tagesschau) dürften das Problem größtenteils lösen und bei den meisten Betroffenen für einen hinreichenden Schutz sorgen (nachzulesen beispielsweise hier in der Jüdischen Allgemeinen). Allerdings betrifft das alleine für Luxemburg, Deutschland, Belgien und Frankreich wohl rund 36 Millionen Menschen, bis zum Abschluss der Booster-Impfungen dürfte es also noch etwas dauern.
Anmerkung: wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie aufgrund einer Immunschwäche zu dieser Risikogruppe gehören könnten, dann lässt sich das durch einen Antikörper-Test feststellen. Das Ergebnis sagt zwar wenig über die Stärke der jeweiligen Immunantwort aus (weil der Antikörper-Titer dazu eher nicht geeignet ist), aber es gibt zumindest die Gewissheit, ob das Immunsystem überhaupt eine Immunantwort aufgebaut hat (mehr zu diesem Thema finden Sie auch im Artikel Was sagen Antikörpertests eigentlich aus? hier im Blog).
Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten
Dazu kommen jetzt noch die Menschen, die sich aus irgendeinem Grunde nicht (oder noch nicht) impfen lassen möchten. Nach den obigen Zahlen betrifft das derzeit in Luxemburg und seinen direkten Nachbarn Deutschland, Frankreich und Belgien rund 21,3 Millionen Menschen (das entspricht rund 13,2% der Bevölkerung der 4 Länder).
Im Moment ist ziemlich absehbar, dass sich ein Großteil dieser ungeimpften Personen in den nächsten paar Monaten mit dem SARS-CoV-2-Virus (bzw. seiner Delta-Variante) infizieren wird. Ebenso absehbar ist (weil wir das heute schon überall in der Welt beobachten können), dass diese ungeimpften Menschen in den nächsten Monaten die überwiegende Mehrzahl der Covid-19-Patienten in den Kliniken und auf den Intensivstationen ausmachen werden.
Das Risiko für ungeimpfte Menschen lässt sich mit den oben angegebenen Hospitalisierungs- und Sterberaten durchaus annähernd beziffern. Bei einer vollständigen Durchseuchung dieser 21,3 Millionen ungeimpften Personen werden wir (bezogen auf die Länder Luxemburg, Deutschland Belgien und Frankreich) von einem potentiellen Risiko von rund 200.000 Todesfällen und rund 1,2 Millionen Hospitalisierungen ausgehen müssen.
Ich möchte daher jedem bisher Ungeimpften wärmstens ans Herz legen, doch noch einmal darüber nachzudenken, ob der Verzicht auf die Covid-19-Impfung dieses Risiko wirklich wert ist. Und das gilt ganz ausdrücklich für Ungeimpfte jeder Altersgruppe.
Die Winterwelle anderer Erreger
Leider dürfte im Herbst und im Winter das SARS-CoV-2-Virus nicht unser einziges Problem darstellen. Denn in dieser Jahreszeit gibt es zusätzlich auch noch andere respiratorische Viren, die unser Gesundheitssystem massiv belasten können. Wir sehen jetzt schon bei den RS-Viren (Respiratorisches Syncytial-Virus) bei Kindern, dass die Saison wesentlich früher beginnt und auch die Krankenhäuser belastet.
Und auch bei der Influenza wissen wir aus vergangenen Jahren, dass relativ häufig schwere Wellen auf leichte Wellen folgen. Das heißt, dass wir in diesem Jahr möglicherweise zusätzlich mit einer schwereren Influenza-Welle rechnen müssen, wenn es keine eindämmenden Maßnahmen mehr gäbe.
2G oder 3G oder gar keine Regel?
Ganz brutal gesagt dürfte das in der Hauptsache davon abhängen, wie viele Todesfälle, welche Auslastung der Kliniken und wie viele Long-Covid-Fälle wir zu akzeptieren bereit sind.
Wir haben derzeit noch mehr ungeimpfte Menschen in Europa, als im bisherigen Verlauf der Pandemie überhaupt infiziert worden sind (und damit noch ausreichend Potential für eine erneute Überlastung des Gesundheits-Systems). Und wir haben mit Delta gleichzeitig eine Variante des SARS-CoV-2-Virus im Umlauf, die erheblich infektiöser als das im letzten Winter vorherrschende Wildvirus ist.
Gleichzeitig sind Schulen geöffnet und soziale Interaktionen verlagern sich aufgrund der Wetterlage wieder mehr und mehr in die Innenräume. Beides sorgt dafür, dass sich das SARS-CoV-2-Virus immer weiter in der Bevölkerung ausbreiten kann. In der Grafik (hier für Luxemburg) sieht man gut die Entwicklung der Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen.
Aus epidemiologischer Sicht sollten wir in dieser Situation eigentlich nicht über Lockerungen, sondern vielmehr über Eindämmungs-Maßnahmen nachdenken. Denn wir sitzen bildlich gesprochen gerade „auf einem Pulverfass“, dass uns jederzeit um die Ohren fliegen kann.
Ohne Regeln für öffentlich zugängliche Gebäude (Schulen, öffentliche Verwaltungen, Kliniken, Altersheime, Horeca-Bereich) wird es bei der Anzahl der Menschen mit unzureichendem Immunschutz nicht gehen, wenn wir keine erneute Überlastung unserer Gesundheits-Systeme provozieren wollen. Übrigens nicht unbedingt, um diejenigen zu schützen, die sich aus freien Stücken nicht impfen lassen möchten. Aber um diejenigen zu schützen, die sich bisher nicht impfen lassen können oder bei denen die Impfung keinen ausreichenden Schutz (mehr) hervorruft.
2G oder 3G
Unser Ziel müsste eigentlich eine möglichst effektiven Eindämmung von Neu-Infektionen sein. Deshalb wäre es sinnvoll, den Zutritt zu öffentlich zugänglichen Gebäuden nur noch Geimpften und Genesenen zu gestatten, also ein reines 2G-System vorzuschreiben. Rechtlich gesehen stellt sich das allerdings ein wenig problematisch dar, weil Ungeimpfte für Geimpfte das Infektions-Risiko wohl nicht so sehr erhöhen, dass man auf dieser Basis Einschränkungen für Ungeimpfte durchsetzen könnte (ähnliches gilt übrigens auch für einen Lockdown im Falle von Geimpften/Genesenen).
Wohlgemerkt, im Gegensatz zum letzten Herbst bin ich dafür, dass das öffentliche Leben möglichst ohne Einschränkung weitergehen kann (und das betrifft ausdrücklich auch die Schulen und den Horeca-Bereich). Im letzten Herbst haben wir einer nicht immunisierten Bevölkerung gegenübergestanden, in diesem Herbst sind nahezu alle Risikopersonen durchgeimpft. Von daher können wir in diesem Herbst auf viele Einschränkungen verzichten.
Aber wir werden die Entwicklung genauestens im Auge behalten müssen, wenn wir nicht eine hohe Zahl von ungeimpften Menschen (von denen es leider immer noch viel zu viele gibt) in den Kliniken sehen wollen. Um die Entwicklung abschätzen zu können, sind möglichst viele Tests wichtig. Wenn wir abwarten, bis wir die Entwicklung in den Kliniken sehen, dann erkennen wir die Entwicklung einige Wochen zu spät.
Deswegen plädiere ich in diesem Herbst/Winter für ein striktes 3G-System, bei dem man neben Geimpften und Genesenen auch negativ Getesteten den Zugang erlaubt (und zwar auch in den Schulen und ausschließlich mit zertifizierten PCR-Tests). Bei der hohen Infektiosität der Delta-Variante wird man allerdings darüber nachdenken müssen, ob eine Gültigkeit von 72 Stunden für einen PCR-Test noch genügend Sicherheit bieten kann, sinnvoller wären wohl 48 oder sogar 24 Stunden (warum Delta so viel infektiöser ist, können Sie im Artikel Delta, der Herbst, die vierte Welle und die Impf-Unwilligkeit hier im Blog nachlesen).
Das luxemburgische 3G+-System
Hier in Luxemburg wird übrigens ein 3G+-System benutzt, bei dem neben PCR-Tests auch am Eingang des jeweiligen Etablissements Antigen-Schnelltests durchgeführt werden können. Das ein solches System nicht funktionieren kann, dürfte allen Beteiligten schon seit längerem klar sein.
Zum einen weisen diese Antigen-Schnelltests systembedingt eine Detektions-Lücke zu Beginn einer Infektion, also dummerweise in der hochinfektiösen Phase, auf (warum das so ist, finden Sie im Artikel Antigen-Schnelltests und die Illusion der Sicherheit vom 18. April 2021 hier im Blog). Und zum zweiten lässt sich dieses Test-Prozedere kaum sinnvoll kontrollieren.
Mit diesen Schwächen konnte man dieses 3G+-System in den Sommermonaten mit ihren niedrigen Inzidenzen möglicherweise noch tolerieren, in den Herbst- und Wintermonaten sollte eine Zugangskontrolle nur noch auf Basis ordnungsgemäß zertifizierter PCR-Tests erfolgen.
Das hat offenbar auch die luxemburgische Regierung erkannt, nach Presseberichten wird derzeit wohl über die Einführung eines entsprechenden Systems diskutiert (siehe beispielsweise hier im L’Essentiel).
Die Impfpflicht
In vielen europäischen Länder wird ernsthaft über eine Impfpflicht nachgedacht. Eine allgemeine Impfpflicht wäre meiner Meinung nach eine falsche Lösung, weil ein etwaiger Impfzwang die Probleme mit Impfgegnern eher noch verschärfen würde (und für die Immunität ist’s egal, die gibt’s auch nach einer Infektion, wenn auch mit höheren Risiken für den Betroffenen).
Aber in bestimmten Berufsgruppen mit regelmäßigem Kontakt zu Risikogruppen (dazu zählt in erster Linie das Gesundheits- und Pflegewesen) könnte man durchaus über eine Impfpflicht (gesetzlich oder durch den Arbeitgeber) nachdenken. Und zwar, weil es dabei nicht mehr um den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers, sondern um den Schutz der ihm anvertrauten Personen geht.
Abgesehen davon wird man es auch einem privaten Unternehmer kaum verwehren können, wenn sie oder er das Hausrecht anwendet und aus Sicherheits-Erwägungen nur noch Geimpften und Genesenen Einlass gewährt. in vielen Städten, beispielsweise in Berlin und Hamburg, sind solche Regelungen bereits möglich, bei Anwendung der 2G-Regeln entfallen dann alle Beschränkungen in den Innenräumen.
Anmerkung: Auch in Luxemburg gibt es ein ähnliches System. Bei Anwendung des Covidcheck-Systems durch einen Betreiber entfallen alle Beschränkungen in Innenräumen. Nur benutzt Luxemburg dafür leider ein 3G+-System, dass durch die ebenfalls möglichen Antigen-Schnelltests kaum als sicher bezeichnet werden kann.
Das SARS-CoV-2-Virus muss endemisch werden
Um auf Einschränkungen verzichten zu können, muss dieses SARS-CoV-2-Virus irgendwann endemisch werden. Und das wird es nur dann, wenn es eine genügend hohe Immunität in der Bevölkerung gibt. Um die zu erzielen, gibt es genau zwei Möglichkeiten: entweder erhöhen wir möglichst schnell die Impfquote oder wir werden uns mit ziemlich vielen Neu-Infektionen und den dazugehörigen Folgen auseinandersetzen müssen.
Momentan haben wir alleine in Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Belgien rund 43 Millionen Menschen ohne irgendeinen Impfschutz, dazu kommen noch Menschen mit einer Immunschwäche (denen die Impfung möglicherweise keinen umfassenden Schutz bietet) und unsere älteren Mitbürger (bei denen der Impfschutz schneller als bei den jüngeren wieder nachlässt).
Einen Teil dieses Problems werden wir mit Booster-Impfungen lösen können. Eventuell werden wir es auch schaffen, bisherige Impfgegner durch Argumente zu überzeugen. Und auch die Zulassung erster Impfstoffe für Kinder unter 12 Jahren steht eventuell kurz bevor. Aber alle diese Lösungen werden Zeit brauchen, und diese Zeit haben wir eigentlich nicht.
Also wird dieses Virus nur dann endemisch werden, wenn sich möglichst viele von uns entweder impfen oder infizieren lassen. Aber für eine wissentlich vorangetriebene Durchseuchung sind die Zahlen noch viel zu hoch. Umfassende Lockerungen würden jetzt zu einer relativ zügigen Durchseuchung von rund 43 Millionen ungeschützter Menschen führen.
Davon sind rund 22 Millionen Kinder unter 12 Jahren, die dabei noch das geringste Risiko haben dürften (sieht man einmal von den schwer einschätzbaren Gefahren durch Long-Covid ab). Deutlich höher liegt es bei geimpften, aber älteren und/oder immungeschwächten Mitbürgern, am höchsten dürfte es für Ungeimpfte sein.
Für vollständig geimpfte Menschen bis zu 70 Jahren und ohne Immunschwäche dürfte das Risiko weitreichender Öffnungen überschaubar sein, außerdem ist der Kontakt mit dem SARS-CoV-2-Virus für den Weg zu einer endemischen Situation wohl unabdingbar.
Mein Ziel als Virologe Drosten, wie ich jetzt gerne immun werden will, ist: Ich will eine Impfimmunität haben und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben. Damit habe ich mich schon lange abgefunden.
Und dann weiß ich, bin ich richtig langhaltig belastbar immun und werde nur noch alle paar Jahre überhaupt mal dieses Virus sehen, genau wie ich die anderen Coronaviren auch immer mal wieder sehe. Das kann ich als relativ gesunder Erwachsener so für mich verantworten. Es gibt andere Bevölkerungsgruppen, die können das natürlich nicht.
Prof. Christian Drosten im NDR-Podcast, Folge 97
Fazit
Lassen Sie mich das obige an dieser Stelle einmal kurz zusammenfassen. Die Gesamt-Bevölkerung der vier Länder Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Belgien beträgt knapp über 161 Millionen Menschen. Davon sind:
- rund 118 Millionen mindestens einmal geimpft, die meisten davon vollständig (davon dürften rund 36 Millionen eine Booster-Impfung benötigen)
- rund 22 Millionen unter 12 Jahre alt und können sich deswegen derzeit nicht impfen lassen
- rund 21 Millionen, die sich aus irgendeinem Grund bisher nicht haben impfen lassen
Auf Basis dieser Daten lassen sich die Risiken einer vollständigen Öffnung und der daraus resultierenden Durchseuchung recht klar definieren. Potentiell gefährdet wären:
- mehrere Millionen ältere und immungeschwächte Mitmenschen, die trotz bereits vorhandener vollständiger Impfung trotzdem noch zur Risikogruppe für schwere Verläufe zählen dürften (zu dieser Gruppe zähle ich übrigens auch die wenigen Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, mehr dazu finden Sie hier)
- rund 22 Millionen Kinder unter 12 Jahren, von denen zwar nur wenige durch eine Infektion das Risiko für einen schweren Verlauf haben werden, die aber eine derzeit kaum abschätzbare Gefährdung durch Long-Covid haben könnten
- rund 21 Millionen Menschen, die sich trotz vorhandenem Impfangebot bisher nicht haben impfen lassen und deswegen zur Risikogruppe für schwere Verläufe gezählt werden müssen
Wir könnten in der derzeitigen Situation mit der Delta-Variante durch weitgehende Lockerungen (oder sogar schon durch ein „Weitermachen wie bisher“) vermutlich die Durchseuchung dieser Menschen „erzwingen“ und damit eine Art Herdenimmunität erreichen. Wären von dieser Durchseuchung nur Menschen betroffen, die sich aus freien Stücken nicht impfen lassen möchten, dann wäre ein solches Vorgehen möglicherweise sogar ethisch vertretbar.
Aber dem ist leider nicht so, denn neben den willentlich Ungeimpften sind Millionen von Menschen betroffen, die nichts für ihren fehlenden Impfschutz können. Und, schlimmer noch, die schiere Anzahl dieser gefährdeten Menschen (rund 43 Millionen Ungeimpfte und weitere Millionen mit nachlassendem oder schlechtem Impfschutz allein in Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Belgien) ist viel zu hoch.
Im bisherigen Verlauf dieser Pandemie (also seit März 2020) sind in Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Belgien zusammen insgesamt etwas über 12,7 Millionen Infektionen nachgewiesen worden. Selbst wenn man eine Dunkelziffer in gleicher Höhe hinzurechnet, dann übersteigt die Zahl der jetzt noch gefährdeten Menschen die Zahl der im bisherigen Pandemie-Verlauf Infizierten immer noch erheblich.
Und das wiederum bedeutet, dass es mit einem „Durchlaufenlassen“ der Pandemie sehr schnell zu einer Überlastung des Gesundheitswesens kommen würde. Und das bezieht noch nicht einmal die zweifellos vorhandenen Gefahren durch Long-Covid und die Winter- und Herbst-Wellen anderer Krankheits-Erreger mit ein.
Es mag durchaus ethisch vertretbar sein, die 21 Millionen Menschen, die sich aus freien Stücken gegen eine Impfung entscheiden haben, einer Durchseuchung auszusetzen. Aber wir haben sicherlich nicht das Recht, 22 Millionen Kinder unter 12 Jahren und Millionen von älteren und/oder immungeschwächten Mitbürgern mit einem Virus zu durchseuchen, solange die Folgen einer solchen Durchseuchung unkalkulierbar sind.
Deswegen werden wir diesen Herbst und Winter noch mit einigen Einschränkungen leben müssen. Dazu sollte eine strikte 3G-Regel (übrigens auch und gerade für die Schulen) ebenso gehören wie eine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in Innenräumen (die uns ganz nebenbei übrigens auch vor anderen respiratorischen Viren schützt).
Über die Aufhebung aller Einschränkungen sollten wir erst dann nachdenken, wenn wir eine Impfquote von wenigsten 90% der über 18-Jährigen erreicht haben, alles andere wäre viel zu gefährlich. Wir werden in Dänemark (das nach Impfung von 95% der über 18-Jährigen alle Beschränkungen aufgehoben hat), sehen können, ob’s damit tatsächlich funktioniert (denn sicher ist leider nicht einmal das).
Noch eine Schlussbemerkung: dieser Artikel erzählt von einem möglichen positiven Ende dieser Pandemie. Wir haben mit der Delta-Variante zwar bereits eine sehr unbequeme Variante des SARS-CoV-2-Virus kennengelernt, aber es könnte durchaus noch schlimmer kommen. Denn mit jeder weiteren Verbreitung, die wir zulassen, steigt die Gefahr der Bildung von Mutationen. Und dabei könnte irgendwann einmal eine Variante herauskommen, die unseren Impfschutz umgeht und uns dadurch „zurück auf Los“ schickt.
Wir haben also ein ziemlich vitales Eigeninteresse daran, dass sich dieses SARS-CoV-2-Virus möglichst wenig verbreiten kann. Und das erreichen wir am besten dadurch, dass wir uns möglichst umfassend impfen lassen.
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