Corona

Natürliche Durchseuchung führt zu gezielter Ausgrenzung

Seit dem 4. Oktober 2020 geistert eine Erklärung durch das Internet, die sich Great Barrington Declaration nennt und die von durchaus namhaften Wissenschaftlern verfasst und unterzeichnet wurde. Nach eigenen Angaben der Website wurde diese Erklärung mittlerweile von knapp 600.000 Menschen weltweit unterzeichnet, unabhängig überprüft ist diese Angabe nicht. Sicher ist hingegen, dass die Erklärung aus wissenschaftlicher und ethischer Sicht purer Sprengstoff ist.

Dieser Artikel befasst sich mit der Great Barrington Declaration und erklärt, warum die Befolgung der darin geforderten Vorgehensweise geradewegs in eine humanitäre und medizinische Katastrophe führen würden.

Die Great Barrington Declaration

Grundsätzlich wünschen sich die UnterzeichnerInnen der Deklaration die Rückkehr zu einem normalen Leben für die Nicht-Risikogruppen und einen besonderen Schutz für die Risikogruppen. In der Deklaration wird das als „gezielter Schutz“ bezeichnet, das letztliche Ziel besteht im Erreichen einer Herdenimmunität auf natürlichem Wege. Im ersten Moment liest sich das durchaus wie eine elegante Lösung.

Bei genauerem Nachdenken wird allerdings schnell klar, dass der Preis für diesen „gezielten Schutz“ das gezielte Aussperren der angenommenen Risikogruppen aus der Gesellschaft wäre und eher einem gezielten Einsperren dieser Gruppen gleichkäme. Im Prinzip also das schon oft gehörte Argument, dass man doch die „Alten und Schwachen“ einsperren möge, damit die „Jungen und Gesunden“ wieder in Ruhe leben können.

Wer sind eigentlich die Risikogruppen?

Außerdem ist es offensichtlich, dass sich die Verfasser der Deklaration keine größeren Gedanken darum gemacht haben, wer denn nun eigentlich zu den „Jungen und gesunden“ gehören soll, die fortan wieder ohne Einschränkung leben dürfen. Es wird zwar von „denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben“ und „nicht schutzbedürftig“ sind, geschwafelt und es wird über „diejenigen, die am stärksten gefährdet sind“ geredet. Weitergehende Definitionen für diese Gruppen bleiben die Verfasser allerdings schuldig, obwohl gerade diese Definitionen von höchster Wichtigkeit wären.

Denn wer soll denn nach dem Willen der Verfasser der Deklaration eingesperrt werden? Zunächst einmal natürlich die meistgefährdete Gruppe, unsere Mitmenschen ab einem gewissen Alter (wobei die Autoren selbst dies nicht definieren, die Rede ist nur von „älteren Menschen“). Sperren wir also zunächst einmal alle über 60 (oder über 65?) ein, damit sie „in Sicherheit“ sind?

Daneben gibt es aber noch viele weitere Risikogruppen, die wir heute schon kennen (und sicherlich einige, die wir noch nicht kennen). Wir wissen aber zumindest schon einmal, dass Faktoren wie Übergewicht, Diabetes, Krebserkrankungen, Niereninsuffizienzen, chronische Lungenerkrankungen, Lebererkrankungen, Schlaganfälle, Transplantationen und Schwangerschaft zu einem erhöhten Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf führen. Sollten wir also auch gleich alle Übergewichtigen und Schwangeren einsperren, damit auch sie „in Sicherheit“ sind?

Mir persönlich erscheint ein solches „Einsperren“ ganzer Bevölkerungsgruppen ethisch nicht vertretbar. Aber lassen Sie uns einmal annehmen, dass wir das tatsächlich täten und einen Blick auf die Konsequenzen einer solchen Maßnahme werfen.

Die unkontrollierte Durchseuchung

Die Verfasser der Deklaration gehen davon aus, dass sich durch das „normale Leben“ der Nicht-Risikogruppen (wer immer das auch sein mag, siehe oben) in der Bevölkerung eine immer größere Immunität aufbaut und dadurch letztendlich dann auch die Risikogruppen mit geschützt werden. Leider gibt es aber auch da ein paar eklatante Schwachpunkte.

Zunächst einmal ist es völlig unklar, ob eine überstandene Covid-19-Erkrankung überhaupt zu einer vollständigen Immunität führt und, wenn ja, wie lange diese anhält. Es gibt bestätigte Fälle von Menschen, die sich ein zweites Mal infiziert haben und auch ein zweites Mal erkrankt sind. Wobei es glücklicherweise auch danach aussieht, als würde die zweite Erkrankung dann eher mild verlaufen. Aber verlassen können wir uns darauf aus heutiger Sicht nicht.

Dazu kommt, dass der völlige Verzicht auf Eindämmungs-Maßnahmen bei den Nicht-Risikogruppen mit Sicherheit zu einer explosiv ansteigenden Entwicklung der Neu-Infektionen in kürzester Zeit führen würde. Wie sich die Situation in den Kliniken in einem solchen Szenario entwickeln würde, wissen wir nicht. Klar ist jedoch, dass sich die Kliniken füllen würden, weil eben Menschen aus vermeintlichen Nicht-Risikogruppen durchaus schwere (und auch tödliche) Verläufe einer Covid-19-Erkrankung haben können. Ob die medizinische Versorgung da noch Schritt halten könnte, ist aus heutiger Sicht mehr als ungewiss.

Inwiefern sich ein ziemlich infektiöses Virus, das sich innerhalb eines großen Teils der Bevölkerung ungebremst ausbreiten darf, von den eigentlichen Risikogruppen fernhalten ließe, lässt sich aus dem Wortlaut der Deklaration heraus kaum beantworten. Denn leider liefern die Autoren auch hier kaum mehr als einige Allgemeinplätze, die Details werden großzügig den Akteuren des öffentlichen Gesundheitswesens der jeweiligen Staaten überlassen.

Sorry, liebe Verfasser, aber von einer überzeugenden Lösung mit detaillierten Angaben zum Konzept ist eure Deklaration weit entfernt. Und zwar sowohl in wissenschaftlicher wie auch in ethischer Hinsicht.

Warum die Deklaration kaum haltbar ist

Etwas überspitzt ausgedrückt reden wir bei der Great Barrington Declaration davon, dass bestimmte Risikogruppen in Zwangs-Isolation müssen, damit der Rest der Menschheit endlich wieder ein normales Leben führen kann. Und davon, dass, auch um diese Aussage drücken sich die Verfasser der Deklaration herum, diese Risikogruppen ein rundes Drittel der Bevölkerung umfassen könnten.

Die (mehr oder weniger gefährliche) Freiheit für die einen mit einer noch stärkeren Einsamkeit für die anderen erkaufen? Und das möglicherweise über Jahre hinweg? Die psychologischen Folgen der Ausgrenzung für Millionen (meist ältere) Menschen akzeptieren, damit andere (meist jüngere) Menschen ungestört feiern können?

Sollten wir ein Virus frei agieren lassen, von dem wir wissen, dass es auch für Menschen aus den Nicht-Risikogruppen tödlich enden oder Langzeitschäden verursachen kann? Eine medizinische Katastrophe riskieren, nur damit Clubs und Bars wieder ordnungsgemäß funktionieren können?

Das alles erscheint weder ethisch oder medizinisch vertretbar noch praktisch durchsetzbar. Deswegen sollte es als das gesehen werden, was es ist, nämlich hochgradiger und populistischer Schwachsinn.

Allerdings leider auch sehr gefährlicher Schwachsinn, denn hier wird Ausgrenzung gepredigt. Und dieser Gedanke der Ausgrenzung fällt leider bei Menschen, die um jeden Preis ihr altes Leben wiederhaben wollen, auf ziemlich fruchtbaren Boden. Zu sehen ist das beispielsweise an den ziemlich verstörenden Bildern, die uns die europäischen Querdenker, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und andere Vollpfosten wöchentlich von ihren Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen liefern.

Die Great Barrington Declaration ist daher sowohl aus ethisch-moralischer als auch aus virologisch-epidemiologischer Sicht komplett inakzeptabel, sie gehört auf das, was Leo Trotzki einmal den „Müllhaufen der Geschichte“ genannt hat.

Bei Interesse finden Sie hier übrigens auch eine Stellungnahme der deutschen Gesellschaft für Virologie zur Great Barrington Declaration.

Psychologische Folgen der Isolation

Aber leider ist das noch nicht einmal alles. Denn Isolation und Ausgrenzung ist nicht nur ethisch nicht vertretbar, sondern führt auch zu kaum beherrschbaren psychologischen Problemen, über die ich in den folgenden Absätzen reden möchte.

Unter den psychologischen Folgen einer Isolation leiden wir alle. Denn wir sind nun einmal soziale Wesen, alleine sein können die wenigsten von uns, wir haben ein ständiges Verlangen nach sozialen Kontakten. Aber leider mussten wir in dieser Pandemie, mit den Bildern von überfüllten Kliniken und vielen Todesfällen vor Augen, begreifen, dass Geselligkeit vor dem Hintergrund eines zirkulierenden Atemwegs-Virus eine überaus riskante Angelegenheit sein kann.

Die allermeisten von uns haben das auch durchaus verstanden und bereitwillig auf viele soziale Kontakte und einen Teil ihres normalen Lebens verzichtet. Und den meisten dieser Menschen ist in den letzten Wochen wohl auch klargeworden, dass die ruhige Sommerphase vorbei ist und dass uns in den nächsten Monaten wahrscheinlich eine eher unerfreuliche Entwicklung bevorsteht.

Wir leiden alle unter den Folgen dieser erzwungenen Isolation, manche mehr und manche weniger. Deswegen gehen wir alle unterschiedlich damit um. Manche von uns leugnen das Virus, manche reden die Situation schön und manche suchen die Verantwortlichen in einem „Deep State“ oder bei Außerirdischen. Aber, und das sollte man trotz der weithin mediatisierten Demos keinesfalls vergessen, die allermeisten von uns nehmen die Gefahr durchaus ernst und halten sich an die Regeln.

Weiterhin sollten wir aber auch nicht vergessen, dass es zwei Gruppen in unserer Bevölkerung gibt, bei denen die Isolation nicht so ganz freiwillig ist, und zwar die Kinder und die älteren Menschen. Mit diesen beiden Gruppen möchte ich mich hier beschäftigen.

Die Lage für die Kinder

Über Kinder und Corona ist in den letzten Monaten in den Medien enorm viel geschrieben worden, wahrscheinlich haben Sie das eine oder andere davon gelesen. In diesem Artikel möchte ich allerdings nicht so sehr auf die hinreichend bekannten Folgen einer Isolation für Kinder eingehen, weil mittlerweile der Grund für die Isolation der Kinder mehr oder weniger weggefallen ist und die Politik auf den geänderten Wissensstand reagiert hat.

In der Anfangsphase dieser Pandemie sind wir davon ausgegangen, dass Kinder (wie bei der Influenza und anderen respiratorischen Viren) einen der Haupttreiber des Infektionsgeschehens darstellen könnten. Die Kindergärten und Schulen wurden damals geschlossen, um kein unabwägbares Risiko einzugehen. Und diese Entscheidung war damals auch völlig richtig, weil eben Kinder und Jugendliche einer der Haupttreiber hätten sein können.

Mittlerweile dürfen wir aufgrund einer Vielzahl von Studien annehmen, dass dem nicht so ist. Es scheint ganz so, als würden jüngere Kinder (so bis ungefähr 12-14 Jahre) kaum am Infektionsgeschehen beteiligt sein. Das mag daran liegen, dass sie sich seltener anstecken oder dass das kindliche Immunsystem schneller auf dieses SARS-CoV-2-Virus reagiert. Oder es könnte irgendeinen anderen Grund haben, den wir bisher nicht kennen. Wir wissen nicht, warum es so ist, aber wir können annehmen, dass es tatsächlich so ist.

Und aus dieser ziemlich sicheren Annahme zieht die Politik auch durchaus Konsequenzen. In den meisten Ländern wird trotz des Nachdenkens über einen erneuten Lockdown kaum jemals an die Schließung von Kindergärten oder Grundschulen gedacht.

Anmerkung vom 8. April 2021

Als dieser Artikel geschrieben wurde, bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass Länder wie Deutschland oder Luxemburg alles daransetzen würden, um die Zahl der Neu-Infektionen möglichst schnell zu senken. Leider hat sich die Sachlage seitdem durch die Entscheidungen der Politik und durch die Verbreitung neuer, hochinfektiöser Mutanten des SARS-CoV-2-Virus deutlich zum Schlechteren geändert.

Hätte man sich politisch für eine Senkung der Neu-Infektionen entschieden, dann hätte die oben beschriebene Vorgehensweise (wohl sogar trotz des Auftretens der Mutanten) durchaus Sinn gemacht und wäre wohl das Beste für jüngere Kinder gewesen. Leider scheinen sich aber viele Politiker eher von der Great-Barrington-Declaration inspirieren zu lassen und betreiben derzeit (ob das nun gewollt oder ungewollt passiert, sei einmal dahingestellt) eine aktive Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung.

Als Resultat dieser Politik und der gleichzeitigen (und schon seit spätestens Dezember absehbaren) Verbreitung der hochinfektiösen Mutanten (allen voran B.1.1.7) sind die Wochen-Inzidenzen in vielen Ländern explodiert und machen nun auch eine Öffnung der Bildungs- und Betreuungs-Strukturen für jüngere Kinder bei überschaubarem Risiko unmöglich.

Die britische Epidemiologin Deepti Gurdasani hat die Rolle der Kinder in der Pandemie (auch schon vor dem Auftreten der B.1.17-Mutante) schon am 5. Januar 20210 in einem Twitter-Thread beleuchtet, der unter dem Titel Kinder haben schon immer zum Infektions-Geschehen beigetragen auch in einer deutschen Version hier im Blog erschienen ist. Ich habe mehrfach hier im Blog auf die Gefahren der Schul-Öffnungen aufmerksam gemacht (beispielsweise in den auch zur Situation in Deutschland passenden Artikeln Sind die Lockerungen und die Schulöffnung in Luxemburg verantwortungslos? vom 5. Januar und Corona und die Strategie für die nächsten Monate vom 26. Januar) und im Artikel Strategien für Schulen und Tests in Luxemburg auch Strategien zur Schulöffnung vorgeschlagen.

Leider alles ohne irgendeinen Erfolg, die Politik arbeitet weiter an der Durchseuchung und ignoriert die Wissenschaft weitgehend. Hier im Blog finden Sie einige Artikel zur aktuellen Situation, die in den letzten zwei Wochen erschienen sind. Besonders hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Artikel Mathe für Politiker*innen (Frau Dr. Merkel ausgenommen) von Michael Flohr, Warum wir auch Kinder und Jugendliche möglichst schnell impfen sollten von Deepti Gurdasani sowie Wir müssen dringend über Flucht-Mutanten reden und Macht bitte endlich die Schulen zu – und dann wieder auf – ein Lagebericht von mir selbst.

Die Lage für die Älteren

Anders sieht es leider bei unseren älteren Mitmenschen aus, gerade bei denen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen. Viele Menschen in diesen Strukturen wurden in der Anfangsphase der Pandemie mehr oder weniger eingesperrt, wohlgemerkt nicht aus bösem Willen, sondern aus der Angst heraus, in einer extrem unübersichtlichen Lage (und oft mit unzureichenden Personal- und Sachmitteln) irgendetwas falsch zu machen.

Als Resultat wurden in der ersten Phase dieser Pandemie die Maßnahmen nahezu komplett auf die physische Gesundheit abgestellt, die psychische Gesundheit der älteren Menschen wurde dabei so ziemlich außer acht gelassen.

Letztlich muss man sagen, dass die getroffenen Maßnahmen in Alten- und Pflegeheimen oft grenzwertig und vielfach wohl auch jenseits des Erträglichen gewesen sind. Angesichts explosiv ansteigender Neu-Infektionen und neuer Einschränkungen des öffentlichen Lebens muss jetzt sichergestellt werden, dass sich das nicht wiederholen kann.

Hier ist jetzt die Politik gefordert. Solange staatliche Rahmenordnungen dem Hausrecht der Pflegeeinrichtungen einen Freibrief zur Schaffung eigener Regelungen ausstellen, wird die Verunsicherung bei Bewohnern und Angehörigen bleiben. Was wir in dieser Situation brauchen, sind klare und transparente (und notfalls auch einklagbare) Richtlinien zum Umgang mit den eigenen Grundrechten der Bewohner dieser Strukturen unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes in den Einrichtungen.

Wir können gerade am Beispiel des Pflegeheims Elysis in Luxemburg-Kirchberg sehen, dass das Fehlen von allgemeingültigen Regelungen dazu führt, dass jede Struktur ihr eigenes Regelwerk schafft (siehe auch Tageblatt vom 27.10.2020). Diese Regelungen können auch durchaus sehr vernünftig sein, aber sie sind trotzdem willkürlich und tragen deswegen erheblich zur Verunsicherung von Bewohnern und Angehörigen bei.

Fakt ist, dass gerade ältere Menschen, und besonders solche in Pflegestrukturen, den Kontakt mit anderen Menschen dringend benötigen. Und Fakt ist leider auch, dass die willkürlichen Regelungen mancher Einrichtungen den Bewohnern das Recht auf Selbstbestimmung nehmen. Im Palliativbereich beispielsweise haben Gerichte längst deutlich gemacht, dass das Recht auf Selbstbestimmung für die Menschenwürde als wichtiger als der Schutz der Gesundheit zu betrachten ist.

Eine solche Argumentation darf nun natürlich nicht dazu führen, dass es älteren Menschen in Pflegestrukturen in einer Pandemie-Situation alles erlaubt sein sollte. Der Schutz des Personals und der anderen Bewohner dieser Strukturen muss immer noch Vorrang vor den Bedürfnissen des Einzelnen haben. Aber es muss auch klar sein, dass ein „Einsperren“ der Bewohner niemals eine Lösung des Problems darstellen kann und darf.

Mögliche Lösungswege für die Altersheime

Es gilt also, einen Lösungsansatz zu finden, der den Bewohnern dieser Strukturen selbst die Entscheidung ermöglicht, ob oder ob nicht sie Besuch empfangen möchten. Etwas problematisch ist das deswegen, weil natürlich gleichzeitig sichergestellt werden muss, dass davon das geringstmögliche Risiko für die jeweiligen Mitbewohner und das Personal ausgeht.

Zunächst einmal, die perfekte Lösung gibt es nicht. Es wird uns nicht gelingen, das SARS-CoV-2-Virus komplett aus den Alters- und Pflegeheimen herauszuhalten. Übrigens nicht einmal dann, wenn wir diese Strukturen wie im Frühjahr wieder komplett sperren würden, denn selbst dann würde irgendwann irgendein Mitarbeiter das Virus einschleppen und es würde sich in den Strukturen verbreiten. Viel zu gewinnen wäre also selbst damit nicht.

Grundsätzlich müssen die Schutzmaßnahmen in den Alters- und Pflegeheimen ebenso wie in den Kliniken verschärft werden. So sollte zum Beispiel ein Besuch von Angehörigen auf den Zimmern nicht mehr erlaubt werden, weil das Risiko für alle Bewohner und Mitarbeiter der jeweiligen Struktur schlicht zu hoch wäre.

Andererseits sollten man den Bewohnern die Möglichkeit geben, Besuch zu empfangen und Menschen außerhalb der Strukturen zu besuchen. In der jeweiligen Einrichtung selbst kann das beispielsweise in speziell für diesen Zweck vorgesehen Besucherräumen erfolgen, damit externe Besucher nicht mit anderen Bewohnern und dem Personal in Kontakt geraten.

Damit ein solches System mit dem geringstmöglichen Risiko funktionieren kann, sind gewisse Kontrollen beim Betreten der jeweiligen Einrichtung notwendig. So sollte jedes Betreten der Struktur von Bewohnern, Mitarbeitern, Lieferanten und Besuchern registriert werden, bei jedem Eintretenden muss darüber hinaus die Temperatur gemessen und ein Antigen-Schnelltest durchgeführt werden. Darüber hinaus sollte bei jeder Person, die sich regelmäßig in der Einrichtung aufhält, einmal pro Tag ein Antigen-Schnelltest durchgeführt werden.

Leider kommt jetzt eine Maßnahme ins Spiel, die vielen nicht gefallen wird. Denn jedes positive Test-Resultat (egal ob Schnelltest oder PCR) muss sofort zu einer strikten Isolation der Einrichtung sowie aller Bewohner und Mitarbeiter führen. Nach 5 Tagen sollte bei jedem Betroffenen ein PCR-Test durchgeführt werden, bei einem negativen Test-Resultat wird die Isolation der betreffenden Person aufgehoben, andernfalls erfolgt nach 2 oder 3 Tagen ein weiterer PCR-Test.

Eine Ausnahme von diesen Regeln sollte es allerdings doch geben. Und zwar sollte diese Ausnahme für Menschen gelten, die am Ende ihres Lebens stehen. Hier können und dürfen Familien-Besuche nicht untersagt werden, allerdings müssen auch hier einige Besuchsregeln gelten (hauptsächlich die Tests beim Betreten der Einrichtung, andere, zusätzliche Maßnahmen sind von den Möglichkeiten der jeweiligen Einrichtung abhängig).

Es ist mir durchaus bewusst, dass mit einer solchen Vorgehensweise auch Menschen in eine Isolation gezwungen werden, die weder erkrankt noch infektiös sind. Und leider ist auch zu erwarten, dass eine solche Isolation mehrmals notwendig sein dürfte. Aber es gibt kein anderes Mittel, um der Entstehung von größeren Clustern in Risiko-Bereichen entgegenzuwirken. Das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen muss hier hinter dem Gesundheitsschutz für die gesamte Einrichtung zurückstehen.

Andererseits handelt es sich hier um eine Isolation mit einer klar definierten Dauer, die schon alleine durch das Wissen um ihr Ende psychologisch erheblich leichter zu ertragen ist, als dass bei Maßnahmen mit ungewissem Endzeitpunkt der Fall wäre.

Zu den Folgen einer Isolation für unsere älteren Mitbürger finden Sie hier im Luxemburger Wort ein sehr interessantes Interview mit Gilbert Pregno, dem Präsidenten der beratenden Menschenrechtskommission in Luxemburg (CCDH).

Interessant und überaus lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel aus dem Tageblatt vom 2. November 2020, in dem eine Mitarbeiterin eines luxemburgischen Altersheims ihre Erfahrungen mit dem Virus mit uns teilt, um uns (hoffentlich) die Augen zu öffnen.

Mittlerweile gibt es übrigens auch einen Mehrstufen-Plan des Familienministeriums und der COPAS (der Dachverband der Pflegedienstleister in Luxemburg) für die luxemburgischen Altersheime, über den beispielsweise RTL hier berichtete. Dieser Plan geht durchaus in die richtige Richtung, ist aber meines Erachtens nach zu kurz gegriffen (das gilt zumindest für die derzeit bekannten Details). Zum einen ist die Stufe 1 des Planes (keine bekannten Infektionen in einer Einrichtung) unnötig, jede Einrichtung zur Altenpflege im ganzen Land sollte so behandelt werden, als gäbe es mindestens eine bestätigte Infektion. Die Stufen 1 und 2 sollten daher zusammengelegt werden, die Stufe 3 sollte in Kraft treten, sobald Infektionen (ungeachtet ihrer Anzahl) in einer Einrichtung nachgewiesen worden sind.

Zum zweiten definiert der Plan keine klaren Reaktionen auf bestimmte Szenarien. Gerade diese klaren Definitionen sind aber dringend notwendig, damit sich die Bewohner der Einrichtungen und ihre Besucher auf die Situation einstellen können. Ansonsten entstehen neue Unsicherheiten und das Vertrauen in die Maßnahmen wird rapide abnehmen.

Fazit

Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, die Risikogruppen für eine Covid-19-Erkrankung klar zu definieren und effektiv zu schützen, ohne sie gleichzeitig ihrer Freiheit zu berauben, dann wäre die grundsätzliche Idee der Great Barrington Declaration (normales Leben für Nicht-Risikogruppen, besonderer Schutz für Risikogruppen) gar nicht einmal so schlecht. Leider ist dem aber nicht so.

Mit der Gefahr durch das SARS-CoV-2-Virus werden wir alle gemeinsam leben müssen. Einem Teil der Bevölkerung auf Kosten des anderen Teils ein „normales“ Leben zu ermöglichen, ist weder ethisch vertretbar noch praktisch durchführbar. Und wahrscheinlich möchte auch keiner von uns gerne hören, dass er jetzt aufgrund seines Alters, seiner Diabetes oder seines Übergewichts leider zuhause bleiben müsse, damit weniger risikobehaftete Menschen ruhig weiterleben können. Solidarität jedenfalls sieht anders aus.

Mittlerweile wissen wir genug über das SARS-CoV-2-Virus und seine Verbreitungswege, um mit dem Virus leben zu können. Wir werden in den nächsten Monaten mit ziemlicher Sicherheit mit gewissen Einschränkungen leben müssen, aber wir können diese Einschränkungen nachvollziehbar planen und zeitlich begrenzen. Die Politik ist hier gefordert, denn nur mit solchen Planungen lässt sich Vertrauen schaffen und eine Akzeptanz der Maßnahmen sicherstellen. Deswegen sollten solche Stufenpläne (wie der oben für die Altersheime grob skizzierte) auch in anderen Bereichen (Schulen, Unternehmen usw.) schnellstmöglich aufgestellt und kommuniziert werden.

Daher möchte ich an dieser Stelle dazu aufrufen, die Great Barrington Declaration eher nicht zu unterzeichnen und Ihnen stattdessen das John Snow Memorandum ans Herz legen, das sich klar gegen eine unkontrollierte Zirkulation des SARS-CoV-2-Virus in Teilen der Bevölkerung ausspricht. Der Namensgeber John Snow ist übrigens der britische Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts herausgefunden hat, dass die Cholera über das Trinkwasser übertragen wird (und, nebenbei bemerkt, der gleich klingende Jon Snow ist ein fiktiver Charakter aus der Serie „Game of Thrones“, von dem das Zitat „Winter is coming“ stammt).

Wichtiger und auch durchaus optimistisch stimmend sind die Möglichkeiten, die uns Antigen-Schnelltests (das sind Abstrich-Tests, die auf Proteine des SARS-CoV-2-Virus im Speichel oder im Nasensekret reagieren) bieten könnten. Momentan sind diese Tests noch nicht genau genug, um beispielsweise bei einer Einlasskontrolle eine wirkliche Sicherheit vor infektiösen Personen bieten zu können (und deswegen auch ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln könnten), aber zur Schnelltestung von potentiellen Clustern (siehe auch weiter oben) können sie bereits heute ein wichtiges Hilfsmittel darstellen.

Solche Schnelltests werden mittlerweile auch in Luxemburg eingesetzt und können sehr hilfreich sein, um Infektionscluster in abgegrenzten Gruppen schnell zu erkennen (Alters- und Pflegeheime, Schulen, Unternehmen usw.). Die Schnelltests haben bei breitflächiger Anwendung durchaus das Potential, die Pandemie-Welle des Winters auf ein beherrschbares Niveau herunterzubremsen. Gerade Luxemburg ist dank seiner bereits jetzt sehr umfassenden Test-Strategie sehr gut aufgestellt, mit in hoher Anzahl verfügbaren und zuverlässigen Antigen-Schnelltest ließe sich diese Ausgangsposition noch einmal deutlich verbessern.

Wir können uns also durchaus etwas Optimismus erlauben. Die Lage sieht zwar momentan alles andere als rosig aus, und es kommt dementsprechend auch in ganz Europa zu neuen Einschränkungen. Aber im Gegensatz zur Anfangsphase dieser Corona-Pandemie wissen wir mittlerweile so viel über das SARS-CoV-2-Virus, dass uns neue Wege aus der Krise offenstehen.

Das verdanken wir übrigens vor allem dem unermüdlichen Einsatz der Wissenschaftler und Forscher. Der Beitrag der Leugner, Schönredner, Schwurbler und Verschwörungstheoretiker hat allenfalls für eine große Verunsicherung und eine ziemliche Verschlimmerung der Lage gesorgt. Vielleicht sollten Sie angesichts dieser Situation einmal darüber nachdenken, wem Sie in Zukunft Ihr Vertrauen schenken sollten.

Wie denken Sie darüber? Haben Sie Anmerkungen oder andere Ideen zu diesem Thema? Oder sehen Sie es ganz anders? Schreiben Sie es mir in den Kommentaren.

Claus Nehring

Ich bin freiberuflicher Autor, Journalist und Texter (aka "Schreiberling") aus Luxemburg. Als Informatiker und Statistiker habe ich jahrelange Erfahrung in der Visualisierung und Modellierung großer Datenmengen. Ich beschäftige mich seit mehr als 30 Jahren mit Infektionskrankheiten und publiziere Artikel zu diesem Thema, aus verschiedenen anderen Wissenschafts-Bereichen und aus dem Bereich Internet & Gesellschaft,

Ein Kommentar

  1. Lieber Autor,

    leider musste ich das Lesen schon nach wenigen Zeilen abbrechen: Ist Ihnen denn entgangen (hm, blöde Frage – ja ist es, sonst hätten Sie den Beitrag ja anders geschrieben), wie unlogisch Sie argumentieren?

    Sie schreiben, man möchte die Alten und Schwachen einsperren, damit die Jungen ihren Spaß haben dürfen.
    Daran ist nichts falsch, genau so wäre es in Ordnung.
    Denn: Was gefährdet die A. und Sch.? Richtig: das Virus. Verschwindet das Virus, wenn wir alle einsperren? Nein.
    Also müssen wir etwas gegen das Virus tun oder einen wirksamen Schutz entwickeln – also Impfen!
    Bis das soweit ist, müssen wir aber die gefährdeten Menschen (also die A. und Sch.) einsperren/schützen.
    NICHT aber die Jungen und Gesunden – denn für die besteht kaum Gefahr (Ja, natürlich weiß ich, dass die auch krank werden können. Aber haben Sie schon mal etwas von dieser seltsamen Krankheit names Grippe gehört? Gibt es seit Ewigkeiten, sterben dauernd Menschen dran, hat bisher keine Sau interessiert).

    Oder sind Sie der Meinung, weil die A. und Sch. nicht aus dem Haus dürfen, um sich nicht anzustecken, sollten aus Solidarität ALLE eingesperrt werden und wenn nebenbei das ganze Land kaputtgeht – auch egal. Das wäre ja kindisch und primitiv. Und ich denke nicht, dass Sie ….

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