Haben wir die Kontrolle über die Pandemie verloren?
Wenn man sich das derzeitige Pandemie-Geschehen hierzulande ansieht, dann fallen zwei Dinge sofort ins Auge. Zum einen ist die Wochen-Inzidenz in Luxemburg seit Mitte Januar steigend, mit einem Wert von 231,91 haben wir heute (19. März 2021) einen neuen Jahres-Höchststand erreicht. Zum anderen scheint das die Regierung nicht allzu sehr zu stören, irgendwelche ernstzunehmenden Maßnahmen zum Senken dieser Zahlen sind nicht erkennbar.
Man scheint davon auszugehen, dass die hohen Fallzahlen der hohen Anzahl an Tests geschuldet sind und dass im Frühjahr und mit zunehmendem Impf-Fortschritt alles von ganz alleine besser wird und schaut eher auf die Bettenbelegung in den Kliniken als auf die tatsächliche Entwicklung. Die Gründe für diese Fehleinschätzung können Sie auch noch einmal im Artikel Warum wir in Luxemburg der Pandemie hinterherlaufen vom 9. Februar 2021 in diesem Blog nachlesen.
Als Resultat scheinen sich die Maßnahmen hierzulande hauptsächlich auf eine Art Pandemie-Management mit der Tendenz zum „Durchlaufenlassen“ der Pandemie zu beschränken. Leider ist das genau die Vorgehensweise, vor der Wissenschaftler weltweit immer wieder warnen.
Ganz grundsätzlich gehen Wissenschaftler davon aus, dass ein „Laufenlassen“ des Infektions-Geschehens dafür sorgen würde, dass sich immer mehr jüngere Jahrgänge anstecken und dass es infolge auch bei den Intensivpatienten und den Todesfällen zu einem Schwenk hin zu jüngeren Menschen kommt. In Luxemburg fällt auf, dass sich die Wocheninzidenz seit Mitte Januar besonders bei der Altersgruppe zwischen 10 und 39 Jahren kontinuierlich erhöht.
Außerdem hat die bisherige Politik dafür gesorgt, dass sich die Mutanten B.1.17 (die „britische“ Variante) und B.1.351 (die „südafrikanische“ Variante) recht mühelos im Land verbreiten konnten, diese beiden Mutanten machen mittlerweile über 80 Prozent des Infektions-Geschehens (B.1.1.7: 62,8%, B.1.351: 18.5%) aus. Den entsprechenden Wochen-Bericht des Laboratoire National de Santé (LNS) finden Sie hier.
Diese beiden Mutanten dürften die Ursache dafür sein, dass die Fallsterblichkeit hierzulande nicht zurückgeht. Eigentlich hätte die zunehmende Impfung der älteren Bevölkerung einen positiven Effekt auf die Fallsterblichkeit haben sollen, stattdessen nimmt sie seit Anfang Januar kontinuierlich zu (von 1,14% am 1. Januar auf 1,27% am 19. März). Was vermutlich bedeutet, dass der positive Effekt durch die Impfungen der älteren Bevölkerung durch die höhere Mortalität dieser beiden Mutanten mehr als ausgeglichen wird. Mehr zur Berechnung der Fallsterblichkeit finden Sie im Artikel Betrachtungen zur Fallsterblichkeit in diesem Blog.
Damit kann man die Eindämmungs-Politik der luxemburgischen Regierung nach derzeitigem Stand wohl nur als gescheitert betrachten. Das, was derzeit hierzulande gemacht wird, ist von wissenschaftlicher Evidenz meilenweit entfernt und dürfte in naher Zukunft erhebliche Probleme verursachen. Und von alleine, wie es die Regierung offenbar hofft, wird sich dieses Problem nicht lösen.
Aber welche Faktoren sind eigentlich dafür verantwortlich, dass das hierzulande schiefgelaufen ist? Denn bis September des letzten Jahres ist Luxemburg ja eigentlich sehr gut durch diese Pandemie gekommen.
Das Ignorieren der wissenschaftlichen Meinung
Wissenschaftler weisen weltweit seit Dezember darauf hin, dass die aufgetretenen Mutanten das Risiko für ein Wiederaufflammen der Pandemie erheblich erhöhen, auch die luxemburgische Covid-Taskforce hat darauf in ihren Wochenberichten immer wieder hingewiesen. Bekannt geworden ist der Ausspruch von Isabella Eckerle vom 30. Dezember 2020.
There is no excuse in a few weeks or months from now to claim that this was unexpected, could not have been foreseen or prevented. All the necessary information & urgent steps to take are on the table. The time to act is now.
Isabella Eckerle auf Twitter am 30. Dezember 2020
Die luxemburgische Regierung hat es allerdings leider vorgezogen, stattdessen eher auf wirtschaftliche Erwägungen und großflächige Tests zu setzen und hat damit eine weiträumige Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und seiner Mutanten in der Bevölkerung zugelassen.
Die nicht angepasste Teststrategie
Die luxemburgische Teststrategie mit dem Large-Scale-Testing war bis Oktober letzten Jahres europaweit, vielleicht sogar weltweit, führend und hat maßgeblich dafür gesorgt, dass wir in Luxemburg recht gut durch den Sommer gekommen sind.
PCR-Test sind zwar nach wie vor die zuverlässigste Möglichkeit zum Nachweis des SARS-CoV-2-Virus, aber sie haben auch einige Nachteile. Denn selbst im diesbezüglich sehr gut aufgestellten Luxemburg können sie erst nach 5-6 Stunden ein Ergebnis liefern, und das ist für eine schnelle Massen-Testung (beispielsweise in Eingangsbereichen hochfrequentierter Gebäude) nicht ausreichend.
Aber seit Ende September letzten Jahres sind zuverlässige Schnelltests in ausreichender Menge auf dem Markt erhältlich, die für genau diese Massentestung eigentlich prädestiniert wären. Seit November/Dezember weisen Wissenschaftler darauf hin, dass Lockerungen der Maßnahmen ohne den Einsatz solcher Schnelltests schnell zu stark ansteigenden Neu-Infektionen führen werden. Ich habe zu diesem Thema hier im Blog am 25. Dezember 2020 den Artikel Antigen-Schnelltests – Game-Changer oder trügerische Hoffnung? veröffentlicht.
Passiert ist diesbezüglich in Luxemburg allerdings wenig, auch hier hat die Regierung es vorgezogen die Meinung der Wissenschaftler zu ignorieren und Lockerungen ohne Einsatz dieser Schnelltests durchzusetzen.
Die Öffnung der Schulen ohne Strategie
Der folgenschwerste Fehler der Regierung lag in der Öffnung der Schulen ab dem 11. Januar 2021, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Vorhandensein der B.1.1.7-Mutante in Luxemburg bereits bekannt war. Denn gerade Schulen erfüllen alle Kriterien, um ein Virus wie SARS-CoV-2 schnell weiträumig zu verteilen.
In Schulen treffen sich Kinder und Jugendliche aus vielen verschiedenen Familien regelmäßig in Innenräumen und sind dort über mehrere Stunden hinweg beisammen. Diese Kinder und Jugendlichen treffen Freunde und Bekannte und gehen abends wieder in ihre jeweiligen Familien zurück. Und das alles geschieht Tag für Tag.
Für ein hochinfektiöses, respiratorisches Virus, das Kinder und Jugendliche ohne größere Symptome infizieren kann, stellt dieser Verbreitungsweg nahezu das Optimum dar. Und all dies war Anfang Januar durchaus bekannt, ich habe über das Thema schon am 22. Juni 2020, damals übrigens als Warnung für die Zeit nach den Sommerferien, im Artikel Schulen und Feiern – Mögliche Treiber der zweiten Welle ausführlich berichtet.
Und auch die Frage, ob Kinder und Jugendliche eine Rolle im Infektions-Geschehen spielen können, ist schon seit spätestens Mitte letzten Jahres grundsätzlich beantwortet. Mehr dazu finden Sie beispielsweise in meinem Artikel Kinder, Jugendliche, Schulen und die Corona-Pandemie vom 10. August 2020 oder im Artikel Kinder haben schon immer zum Infektions-Geschehen beigetragen der britischen Professorin Deepti Gurdasani vom 5. Januar 2021, beide hier im Blog.
Selbst nach den Karnevals-Freien, als bereits klar war, dass sich der deutliche Anstieg der Wochen-Inzidenz in hohem Maße auf die Schulöffnungen zurückführen lässt, wurde an der Öffnung der Schulen unbeirrt festgehalten. Ich habe den damaligen Stand im Artikel Strategien für Schulen und Tests in Luxemburg vom 16. Februar 2021 in diesem Blog zusammengefasst und Strategien für den Umgang mit der Pandemie vorgeschlagen, auf eine Änderung der Strategie des Bildungsministeriums warten wir leider bis heute vergebens.
Stattdessen behauptet der luxemburgische Bildungsminister Claude Meisch in einem RTL-Interview vollmundig, dass bis zu 300 Neu-Infektionen pro Woche im schulischen Umfeld auch ohne Home-Schooling tolerabel seien. Vor diesem Hintergrund muss man sich dann schon die Frage stellen, ob das eine verantwortungsvolle Handlungsweise sein kann oder ob hier ein Bildungsminister fahrlässig mit der Gesundheit der Menschen in seinem Verantwortungsbereich spielt.
Um das einmal kurz einzuordnen: 300 Neu-Infektionen pro Woche bedeutet, dass von diesen 300 Personen zwischen 15 und 20 mit einem schweren Verlauf in einer Klinik landen werden, 3 oder 4 dieser Personen werden an der Erkrankung sterben und ungefähr 10 von ihnen werden von Langzeit-Folgen, dem sogenannten Long-Covid, betroffen sein.
Tatsächlich gab es laut dem letzten Wochenbericht des luxemburgischen Bildungs-Ministeriums in der Woche vom 8. bis zum 14. März 2021 übrigens bereits 337 positive Fälle in den Schulen, der laut der Aussage des Bildungsministers noch tolerable Punkt ist also bereits jetzt deutlich überschritten. Reaktionen? Keine!
Bei einer Verbreitung der hochinfektiösen Varianten B.1.1.7 von knapp 63% und B.1.351 von 18.5% lässt sich davon ausgehen, dass zu diesen 337 Neu-Infektionen im schulischen Bereich noch einmal wenigstens weitere 337 im privaten Umfeld hinzukommen, womit dann deutlich mehr als die Hälfte der 1.249 Neu-Infektionen dieser Woche hierzulande direkt oder indirekt auf die Öffnung der Schulen zurückzuführen ist (Quelle: Wochenbericht der Santé).
Wenn man die oben genannten Folgeerscheinungen auf diese 674 Neu-Infektionen hochrechnet, dann scheint der luxemburgische Bildungsminister demnach 8 Todesfälle und wenigstens 20 von Langzeitfolgen der Covid-19-Erkrankung betroffene Menschen PRO WOCHE als akzeptablen Preis für die Offenhaltung der Schulen anzusehen ….
Fazit
Das luxemburgische Pandemie-Handling hat bis zum Ende letzten Jahres eigentlich wirklich ordentlich funktioniert. Die erste Pandemie-Welle im März/April letzten Jahres wurde dank harter und schneller Maßnahmen sehr gut eingedämmt, zwei kleinere Wellen Mitte Juli 2020 (kurz nach der Rückkehr zum schulischen Normalbetrieb vor den Sommerferien) und Ende September (kurz nach dem Ende der Sommerferien) wurden auch recht gut bewältigt.
Die zweite große Pandemie-Welle im Oktober/November wurde zwar nach gut acht Wochen wieder eingefangen, die Wochen-Inzidenz ist danach aber nie wieder unter 100 gesunken (der niedrigste Wert seit dem 11. Oktober 2020 lag bei 125,86 am 19. Januar 2021).
Insofern könnte man durchaus sagen, dass wir hierzulande die zweite große Pandemie-Welle niemals haben brechen können, stattdessen befinden wir uns dank der nicht evidenz-basierten Maßnahmen der Regierung momentan am Anfang eines neuen exponentiellen Wachstums.
Das wird sich nicht mehr sehr lange wegdiskutieren, verharmlosen oder schönreden lassen. Die Folgen sollten nicht überraschen, die Dynamik ist bekannt: Erst steigen die Fallzahlen, dann füllen sich die Intensivstationen und zuletzt steigt auch die Zahl der Toten. Die bisherigen Impfungen (momentan sind weniger als 3% der Bevölkerung vollständig geimpft, knapp 8,5% haben immerhin die erste Impfdosis erhalten) werden uns dabei nicht sehr viel helfen, wenn die Fallzahlen weiter so rasant ansteigen, dann wird das sehr schnell zu einem großen Problem.
Und was tut die luxemburgische Regierung dagegen? Offenbar zunächst mal gar nichts, man scheint weiter auf das Prinzip „Augen zu und durch“ zu setzen. Aus der europäischen Spitzengruppe haben wir uns sowieso längst verabschiedet, wir scheinen uns mit dem Rang des Statisten (andere Länder nennen das Risikogebiet) abgeben zu wollen.
Für eine Weile hat es im letzten Jahr so ausgesehen, als würde das kleine Luxemburg den großen europäischen Nachbarn zeigen können, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit einer Pandemie aussehen kann. Gleichzeitig hätten wir bei der Gelegenheit auch gleich zeigen können, dass mit einem gut durchdachten Konzept auch ein Home-Schooling nicht unbedingt zu Einbußen im Bildungsbereich führen muss. Das, liebe Regierung und liebes Bildungs-Ministerium, wäre ein wirklich fabelhaftes Nation-Branding gewesen.
Ich habe am 15. Juli 2020 unter dem Titel Warum Luxemburg kein Risiko für seine Nachbarn ist einen Artikel veröffentlicht, in dem erklärt habe, warum die deutschen Grenzschließungen ungerechtfertigt waren und warum das luxemburgische Infektions-Geschehen durch das Large-Scale-Testing falsch dargestellt wird. Leider könnte ich einen solchen Artikel in der heutigen Situation nicht mehr schreiben, denn mittlerweile ist Luxemburg zu einem Risiko für seine Nachbarn geworden.
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