Die Bedeutung der Übersterblichkeit
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der sogenannten Übersterblichkeit. Um diese Zahl zu berechnen wird die Anzahl der tatsächlichen Todesfälle in einem bestimmten Zeitraum mit der Anzahl verglichen, die statistisch gesehen unter „normalen“ Umständen zu erwarten gewesen wäre.
Auf diese Art und Weise werden beispielsweise seit Jahren die Todeszahlen der jährlichen Grippewellen berechnet. Und hier findet sich auch die Quelle vieler falscher Vergleiche von Todeszahlen. Denn bei den gerne zitierten 25.000 Todesfällen in der schweren Grippesaison 2017/2018 handelt es sich um eine Schätzung der Übersterblichkeit. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den Covid-19-Sterbefällen nicht um eine Schätzung, sondern um die Todesfälle von Patienten mit einer laborbestätigten SARS-CoV-2-Infektion.
Wenn man also die aktuelle Covid-19-Todesfallzahl mit der Anzahl der Grippetoten von 2017/2018 vergleichen möchte, darf für die Grippe auch lediglich die Zahl der Todesfälle bei laborbestätigten Influenza-Infizierten herangezogen werden. Diese lag (laut RKI-Saisonbericht, Seite 46) aber nicht bei 25.000 Todesfällen, sondern lediglich bei 1.674.
Die tatsächlichen Auswirkungen der aktuellen Corona-Pandemie werden sich daher erst am Ende der Pandemie anhand dieser Übersterblichkeit mehr oder weniger genau abschätzen lassen. Und auch dann werden wir, ebenso wenig wie bei den jährlichen Grippewellen, nicht genau wissen, was denn nun eigentlich die genaue Todesursache vieler Verstorbener war.
Warum die Übersterblichkeit wichtig ist
Die momentan vorliegenden Zahlen geben die Anzahl der bestätigten Todesfälle aufgrund von Covid-19 an. Diese Anzahl kann aus vielerlei Gründen von der Gesamtzahl der durch die Pandemie verursachten Todesfälle abweichen:
- Manche Länder melden nur Covid-19-Todesfälle aus Krankenhäusern, eventuelle Todesfälle in den Haushalten oder Altersheimen werden hier möglicherweise nicht erfasst. In anderen Länder werden nur Todesfälle gemeldet, bei denen ein Covid-19-Test eine Infektion bestätigt hat, vielfach werden auch verstorbene Personen nicht nachträglich getestet.
- Die Meldesysteme vieler (besonders ärmerer) Länder reichen vielfach nicht aus, um die Sterblichkeit genau zu messen. Dadurch werden dann weder Corona-Todesfälle korrekt erfasst noch lässt sich eine Übersterblichkeit berechnen.
- Die Corona-Pandemie kann durch eine Überlastung der Gesundheits-Systeme dazu führen, dass es zu vermehrten Todesfällen aus anderen Gründen kommt. Denn durch die Überlastung stehen weniger Mittel und Behandlungsmöglichkeiten für andere Krankheiten und Notsituationen zur Verfügung.
- In der anderen Richtung kann die Corona-Pandemie aber auch zu weniger Todesfällen aufgrund anderer Ursachen führen. Beispielsweise können die Mobilitätseinschränkungen während der Pandemie zu weniger Todesfällen aufgrund von Verkehrsunfällen führen.
Diese (sicherlich nicht vollständige) Liste macht deutlich, dass beide Werte (bestätigte Todesfälle aufgrund von Covid-19 und Übersterblichkeit) eine jeweils unterschiedliche Fragestellung beantworten. Die bestätigten Todesfälle zählen häufig die Gesamtzahl der Todesopfer, enthalten jedoch im Gegensatz zur Übersterblichkeit Informationen über die Todesursache. Die Übersterblichkeit umfasst nicht nur die Covid-19-Todesfälle, sondern auch diejenigen, die aus anderen Gründen gestorben sind. Um die tatsächlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu erfassen, sind beide Metriken notwendig.
Statistiken zur Übersterblichkeit gibt es nicht überall
Leider lässt sich die Übersterblichkeit nur für relativ wenige Länder errechnen. Das liegt daran, dass nur die reicheren Länder der Welt über statistische Ämter verfügen, die die Anzahl der verstorbenen Menschen in den für die Berechnung benötigten Tages-, Wochen- oder Monats-Intervallen zur Verfügung stellen können. Und in den Ländern, in denen diese Daten aus den Vorjahren fehlen, wird die Berechnung auch niemals möglich sein.
Wie aus den verfügbaren Schätzungen zur Übersterblichkeit hervorgeht, sind diese Daten meist nur für reichere Länder verfügbar, die sich qualitativ hochwertige Datenmeldesysteme leisten können. Die Überwachung der Auswirkungen einer globalen Pandemie ist dadurch nur sehr eingeschränkt möglich.
Forscher greifen deswegen vielfach auf andere Quellen zurück, um die Übersterblichkeit abzuschätzen. Das können beispielsweise Daten aus Bestattungsunterlagen, Sterberegistern oder regionale Daten aus größeren Städten sein, die zumindest eine Schätzung zulassen. Aber in vielen Fällen sind leider überhaupt keine verlässlichen Informationen verfügbar.
Verfügbare Daten zur Übersterblichkeit
Leider gibt es zwar eine Menge an Datenbanken mit Informationen über die bestätigten Corona-Fälle weltweit, aber keine einzige internationale Organisation verfügt über eine gesicherte Datenbasis für die Übersterblichkeit. Die zur Verfügung stehenden Daten stammen aus Medienpublikationen und regionalen Agenturen, sie finden sich in diesen Quellen:
- Der Economist veröffentlichte die erste Datenbank zur Übersterblichkeit auf GitHub und stellt auf seiner Website die Daten auch grafisch aufbereitet zur Verfügung.
- Die New York Times veröffentlicht ihre umfangreichen Daten ebenfalls auf GitHub und auf ihrer Website in Form von Grafiken.
- Die Human Mortality Database veröffentlicht auf ihrer Website herunterladbare Daten für eine Reihe von Ländern
- EuroMOMO (European Mortality Monitoring) veröffentlicht auf seiner Website Grafiken und Tabellen zur Übersterblichkeit der 24 teilnehmenden europäischen Staaten
Aber alle diese Daten decken nur einen sehr kleinen Teil des tatsächlichen Ausbruchsgeschehens weltweit ab, für viele Länder werden belastbare Daten frühestens im nächsten Jahr vorliegen.
Was momentan bekannt ist
Die New York Times errechnet anhand der bisher vorliegenden Übersterblichkeiten aus 19 Ländern und 9 großen Städten eine zusätzliche Anzahl von rund 87.000 Todesfällen, die zu den rund 380.000 offiziell veröffentlichten (zumindest teilweise) hinzuaddiert werden müssten.
Alleine in Großbritannien sind seit Beginn der Pandemie rund 57.000 Menschen mehr gestorben, als dies in „normalen“ Perioden statistisch der Fall gewesen wäre, nach Abzug der offiziellen Covid-19-Todesfälle bleibt ein Überschuss von rund 16.000 Todesfällen.
Die vollständigen Zahlen für alle betrachteten Länder finden Sie in diesem laufend aktualisierten Artikel der New York Times.
Wie die Tagesschau berichtet, liegt auch in Europa die Übersterblichkeit auf einem historischen Höchststand, seit Beginn der Pandemie sind in ganz Europa rund 100.000 Menschen mehr verstorben, als dies zu „normalen“ Zeiten statistisch zu erwarten gewesen wäre. Auch in Europa dürfte also die tatsächliche Zahl der bisher während der Pandemie ums Leben gekommenen Personen oberhalb der offiziell gemeldeten Todesfallzahlen liegen.
Eine grafische Aufbereitung der Zahlen finden Sie auch hier auf der Website von EuroMOMO.
Eine Berechnung der Financial Times vom 26. April 2020 für 14 Länder kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die tatsächliche Anzahl der Todesfälle vermutlich um bis zu 60 % über den offiziell gemeldeten Zahlen liegt.
Für Luxemburg ist derzeit der Trend noch nicht absehbar. Die aktuellen Zahlen von Statec für das erste Quartal 2020 (1. Januar bis 31. März) zeigen aufgrund einer milden Grippewelle weniger Todesfälle als in den Jahren 2018 und 2019. Allerdings stieg die Übersterblichkeit nach dem ersten Corona-Todesfall in den letzten zwei März-Wochen deutlich an (+ 15%). Die Statec erwartet, dass sich dieser Trend im April fortsetzt, Zahlen dazu liegen allerdings noch nicht vor. Den entsprechenden Bericht der Statec finden Sie hier.
Fazit
Abschließend lässt sich festhalten, dass die aktuelle Corona-Pandemie vermutlich bereits deutlich mehr als 500.000 Menschen weltweit das Leben gekostet hat, von denen momentan (Stand: 3. Juni 2020) mehr als 380.000 positiv auf das Virus getestet wurden.
Damit ist der derzeitige Stand an bestätigten Todesfällen schon jetzt deutlich höher, als er es jemals in den Grippewellen der letzten Jahre und Jahrzehnte war. Annähernd vergleichbare Werte finden sich erst in der Spanischen Grippe der Jahre 1918 bis 1920. Und wir stehen wohlgemerkt immer noch am Anfang dieser Pandemie.
Insofern sollten diejenigen, die die aktuelle Corona-Pandemie als nicht schlimmer als eine Grippe bezeichnen und ständig und lautstark die Rückkehr in ein „normales Leben“ fordern, möglicherweise noch einmal über ihre Forderungen und Schlussfolgerungen nachdenken.
Wie denken Sie darüber? Haben Sie Anmerkungen oder andere Ideen zu diesem Thema? Oder sehen Sie es ganz anders? Schreiben Sie es mir in den Kommentaren.
Weiterführende Links
- RKI-Saisonbericht zur Influenza-Saison 2017/18
- Artikel aus der Pharmazeutischen Zeitung zum Vergleich von Todesfällen
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